Gauß: Eine Biographie (German Edition)
dass es in Göttingen keinen Menschen gibt, mit dem er sich über seine mathematischen Ideen austauschen kann. Zimmermanns Unterstützung ist vorbildlich. Er stellt den Kontakt mit dem Intelligenzblatt her, bespricht mit seinem ehemaligen Schüler formale Aspekte der schriftlichen Ausführung, kümmert sich um einen Verleger und um einen kompetenten Altphilologen, der die Gauß’sche Arbeit ins Lateinische, die lingua franca der gelehrten Welt, übertragen soll. Aber in seiner Eigenschaft als Mathematikprofessor ist er mit dem Gauß’schen Ansatz zur Zahlentheorie überfordert.
Seit den Osterferien «logiert» Gauß in der Kurzen Geismarstraße 30 bei der Witwe Vollbaum. Warum er bei Herrn Blüm in der Gothmarstraße ausgezogen ist, bleibt ungeklärt. Im 1. Stock des schmalen Fachwerkhauses blickt der scheue Mathematikrevolutionär auf die südöstliche Krümmung des Walls hinaus, die geschleifte ehemalige Stadtmauer, aus der inzwischen die beliebteste, mit Linden und Kastanien gesäumte Promenade Göttingens geworden ist. In seiner neuen Unterkunft denkt er über die Eigenarten, Funktionen und Gesetzmäßigkeiten mathematischer Strukturen und Prozesse nach, die er auf bisher unerforschten Hochplateaus im Reich der ganzen Zahlen entdeckt hat.
Bei Witwe Vollbaum wird er nun zweieinhalb Jahre lang in Sichtweite des prächtigen Accouchierhauses leben, das einem ländlichen Barockschloss ähnelt und in dem Friedrich Benjamin Osianders hochmoderne Entbindungsklinik eingerichtet ist. Es ist das letzte Grundstück an der Kurzen Geismarstraße im südöstlichsten Zipfel der Stadt. Unmittelbar davor verläuft der Wall. Auf seinen Spaziergängen wird Gauß die schwangeren Frauen gesehen haben, wie sie im «Heim für gefallene Mädchen», wie die anständigen Bürger hinter vorgehaltener Hand das Etablissement nennen, ein und aus gehen. Neun von zehn dort auf ihre Entbindung wartenden Frauen sind ledig und stammen aus der untersten sozialen Schicht. Bei dem im Namen der Wissenschaft künstlich forcierten Geburtsvorgang stirbt so manche unverheiratete Dienstmagd, Köchin und Landarbeiterin. Osiander sammelt ihre Beckenknochen. Säuglinge, die die Geburt nicht überleben, werden in Weingeist eingelegt. Exakt zweihundert Jahre später wird Gauß’ präpariertes Gehirn mit den Beckenknochen so mancher schwangeren Frau, auf die er hier einen heimlichen Blick geworfen haben mag, in einem Resopalschrank im Keller eines Universitätsinstituts logieren.
Sein Domizil am Stadtrand ist kein Elfenbeinturm, denn er pflegt seine akademischen Kontakte. Er besucht die Vorlesungen des Altphilologen und Archäologen Heyne und Heerens historische Seminare. Und mit Carl Felix Seyffer, dem nur 15 Jahre älteren Assistenzprofessor für Astronomie, knüpft er sogar eine freundschaftliche Beziehung. Im Haus von Seyffer lernt Gauß den zwei Jahre älteren Mathematikstudenten Wolfgang Bolyai kennen, der aus einer ungarischen Adelsfamilie stammt, die ihre Wurzeln im siebenbürgischen Hermannstadt hat. Offenbar redet sich Bolyai in Gegenwart von Gauß in Rage über den akademischen Mathematikbetrieb und bricht eine Lanze für mehr Strenge und eine gründlichere Durchdringung des Metiers, ohne zu wissen, von welchem Kaliber sein Gegenüber ist. Der hat zu diesem Zeitpunkt schon mehr als 30 weitere eigenständige Entdeckungen in sein Notizenjournal eingetragen. Im Rückblick findet Bolyai seine Tirade gegen die oberflächliche Behandlung der mathematischen Grundlagen wohl selbst ein wenig peinlich. Vermutlich ist es eher ein Rundumschlag gegen alles Alte, Verkrustete, gegen Philistertum und Gleichgültigkeit gewesen, eine jugendlich hitzköpfige Kritik statt der Darbietung eigener diskussionswürdiger Erkenntnisse: «Als unwissender Selbstdenker sprach [ich] dreist mit des leeren Fasses Klange» [Bol: 152]. Aber Bolyais Begeisterungsfähigkeit für die Mathematik und seine idealistische Gesinnung finden Resonanz bei dem stillen Zuhörer Carl Friedrich Gauß. Kurze Zeit später begegnen sie sich wieder zufällig auf der Wallpromenade. Ins Gespräch vertieft, umrunden sie die Stadt und schwören sich am Ende des Tages ewige Freundschaft. Einen seltsam verschlossenen Freund hat der temperamentvolle Bolyai da gewonnen. Gauß kommt ihn regelmäßig besuchen, um schweigend von der Arbeit bei ihm auszuruhen. Hier kann er in Gesellschaft sein, ohne dass der andere ihm ein Gespräch aufzwingt. «Er war sehr bescheiden und zeigte wenig … jahrelang konnte man
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