Gauß: Eine Biographie (German Edition)
mit ihm zusammen sein, ohne seine Größe zu erkennen. Ich wusste nicht, wieviel er wusste, und er hielt, nachdem er meine Art sah, viel von mir, ohne zu wissen wie wenig ich bin» [Bol: 178].
Bald jedoch dämmert dem Mathematikstudenten, der in seiner ungarischen Heimat selbst als Wunderkind gegolten hat, dass der neue Freund ganz und gar selbständige Forschungen betreibt. Beide schwärmen von einer Seelenverwandtschaft, gespeist aus der gemeinsamen Leidenschaft für die Mathematik. Wolfgang Sartorius von Waltershausen, seinem Freund und ersten Biographen, versichert Gauß am Ende seines Lebens, Bolyai sei der Einzige gewesen, der ihm in seiner Göttinger Sturm-und-Drang-Phase beim Ausloten mathematischer Tiefen habe folgen können. Der achtzigjährige Bolyai gibt nach dem Tod seines Freundes allerdings überraschenderweise zu, nicht wirklich zu ihm durchgedrungen zu sein: «Schade, dass ich dieses titellose, schweigsame Buch nicht aufzumachen und zu lesen verstand» [Bol: 178].
5. Arithmetische Untersuchungen
Schon als Drittklässler hat Gauß das voluminöse Mathematikbuch Demonstrativische Anweisung zur Rechenkunst für diejenigen, so in derselben den rechten Grund legen wollen, und welche im gemeinen Leben unentbehrlich von Christian Stephan Remer besessen. Der Braunschweiger Rechenmeister lehrt darin das kaufmännische Rechnen «mit Vorteilen». Der gelehrige Schüler Carl hat seitdem so manche konstruktive Methode selbst gefunden und verfeinert, um Rechenverfahren elegant abzukürzen. So gelingen ihm etwa bei der Bearbeitung der Lambert’schen Logarithmentafeln dank kontinuierlicher Praxis, anhaltendem Fleiß und nicht zuletzt dank seines ungewöhnlichen Geschicks originelle Kunstgriffe, die bereits über den Horizont des Tabellenherausgebers hinausgehen. Erfolgserlebnisse wie diese werden seinen Ehrgeiz angefeuert haben, neue Verfahren zu finden, die ihm die Arbeit erleichtern. Als Gymnasiast und später als Carolinum-Zögling hat er eigene umfangreiche Tabellenwerke für seine Selbststudien angelegt und offenbar «spielend bewältigt, was anderen Rechnern nur Mühe und Arbeit, aber gewiss keine Freude gemacht hätte» [Mae 1 : 4]. Um eine bestimmte Eigenschaft der Primzahlen von 2 bis 997 festzustellen, muss er mehr als 16 000 Überprüfungen vornehmen. Aber offenbar lohnt sich die Anstrengung, denn mit Hilfe dieser Tafel gelingt es ihm, das Reziprozitätsgesetz als einen der wichtigsten Sätze der Zahlentheorie erstmals zu beweisen.
Jeder professionelle Mathematiker empfindet das Dividieren durch große Zahlen als unangenehme Beschäftigung. Für sein Opus magnum , das in der Kurzen Geismarstraße allmählich Gestalt annimmt, notiert sich Gauß in dem Lehrbuch der Arithmetik und Algebra von Christian Leiste Anleitungen zur Vermeidung lästiger Divisionen. Er hat sich sein Exemplar – offenbar in der Absicht, es als Übungsbuch zu benutzen – mit Schreibpapier durchschießen lassen, ist aber schon bald über den Inhalt des Buches hinausgewachsen und nutzt jetzt das kostbare Papier nur noch für seine eigenen Zwischenrechnungen und Aufzeichnungen. Um dem lästigen Dividieren aus dem Weg zu gehen, hat er eigens eine Tabelle für Dezimalbrüche aufgestellt, mit deren Hilfe er, vereinfacht formuliert, eine umständliche Division in eine bequemere Addition oder Subtraktion verwandeln kann [Mae 1 : 12]. Hier weicht er von dem üblichen Rechenschema ab, zerlegt große Nenner zunächst in Faktoren – eine Strategie, die er selbst noch bei schwindelerregend großen Zahlen beherrscht.
Zu den Wissenschaftlern, die die Gesammelten Werke von Gauß herausgegeben haben, gehört der Mathematiker Philipp Maennchen. Er hat die Notizhefte und Zettel des handschriftlichen Nachlasses gesichtet und ist dabei so manchen Abkürzungstricks und Kunstgriffen auf die Spur gekommen, die Gauß für so selbstverständlich hielt, dass er weder darüber gesprochen hat, noch in seinen gedruckten Schriften darauf eingegangen ist. Sorgfältig hat Maennchen auch die Zwischenrechnungen, Übungen und Kommentare analysiert, die sich an Buchrändern finden und sich vor allem im Leiste-Exemplar des Studenten Gauß häufen. Er nennt ihn einen Meister «individualisierenden Rechnens». Seine ausgeprägte Beobachtungsgabe und seine Intuition für nützliche Neukombinationen lassen ihn erkennen, ob es sich um eine Primzahl handelt oder ob sich eine Zahl in günstig zu verarbeitende Faktoren zerlegen lässt. So wird, um ein einfaches Beispiel
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