Gauß: Eine Biographie (German Edition)
reisen zu müssen. Die Arbeit an den Untersuchungen kostet ihn mehr Zeit und Kraft als ursprünglich geplant. Eigentlich hat er dieses immer wieder umgeschriebene Werk als Dissertation einreichen wollen, doch jetzt, da sich weitere Verzögerungen abzeichnen und der Herzog sanften Druck ausübt, verständigt er sich mit Pfaff darauf, «nur» mit seinem Beweis für den Fundamentalsatz der Algebra zu promovieren. Der Beweis ist eine weitere Glanztat, die er im Oktober 1797 mit einer spärlichen lateinischen Tagebuchnotiz abgehakt hat. Noch so ein Nebenprodukt seiner umfassenden Erneuerung der Arithmetik. Am Fundamentalsatz der Algebra haben sich die besten Mathematiker früherer Epochen wie Descartes, Leibniz und Newton die Zähne ausgebissen. Euler, der seit 15 Jahren tot ist, glaubte zwar, einen wasserdichten Beweis gefunden zu haben. Doch Gauß führt seinen zeitgenössischen Kollegen gnadenlos vor, dass Eulers Argumentation lückenhaft ist.
Vor der letzten Abschrift der Arbeit kommt es aber noch zu einer letzten Begegnung mit Wolfgang Bolyai, der sein Studium in Göttingen beendet hat und nun zu Fuß in seine Siebenbürgener Heimat zurückkehren will. In dem Briefwechsel, der diesem Treffen vorausgeht, erweist Gauß sich als einfühlsamer Interpret unausgesprochener Probleme des Freundes, der eigentlich viel zu knapp bei Kasse ist, um ihn in Braunschweig besuchen zu können. Gauß rechnet ihm auf Groschen und Pfennig genau vor, wie er sein Geld einteilen müsste, um seine Schulden abzubezahlen. Das klingt wohlwollend und liebenswürdig, zumal Gauß ihm anbietet, seine Reisekosten zu übernehmen. Aber dieser kleine Vortrag über realistisches Haushalten mit knapp bemessenem Budget klingt auch so souverän und routiniert, als sei es nicht das erste Mal, dass der kühle Rechner Gauß dem verschwenderischen Freund kluge Ratschläge erteilt und ihn zwischen den Zeilen sanft ermahnt, nicht über seine Verhältnisse zu leben. So einigen sich die Freunde darauf, am 24. Mai 1799 einander entgegenzuwandern und sich auf halber Strecke zwischen Göttingen und Braunschweig bei Sonnenuntergang in der Harzer Bergbaustadt Clausthal zu treffen, die Tabakspfeife als Symbol ihrer Freundschaft in der Tasche.
Sie kehren im Ausflugslokal «Zum Auerhahn» ein, wenige Kilometer nördlich von Clausthal an der alten Harzchaussee gelegen, rauchen die Pfeife, spielen Billard und erneuern – in der Gewissheit, sich nie wiederzusehen – ihren Freundschaftsbund. Am nächsten Morgen stehen sie auf dem Bocksberg, schauen hinaus ins Braunschweiger Land und nehmen endgültig Abschied voneinander. Gauß schenkt Bolyai die Tafel, auf die er seinen Beweis zur Konstruktion des Siebzehnecks erstmals niedergeschrieben hat, und muss dabei wohl eine verhaltene Freude ausgestrahlt haben, denn noch 56 Jahre später erinnert sich der Achtzigjährige ausdrücklich an diese Gefühlsregung, die er doch sonst bei Gauß so selten erlebt habe. In diesem Überschwang erklärt Gauß schließlich, er wünsche sich das Siebzehneck, seine erste veröffentlichte Entdeckung, in seinen Grabstein eingraviert. Da will sich auch Bolyai nicht lumpen lassen und verknüpft die Stunde ihrer Begegnung mit einem düsteren Schwur, den ebenfalls ein Hauch von Endgültigkeit umweht: «Mir wird die Zeit heilig sein bis in mein Grab. Es kömmt mir vor wie ein Opfertag.» Eine Stunde später hat die schnöde Welt sie wieder. Jeder wandert im Dauerregen allein nach Hause. Gauß hat sich offenbar an den «schlechten Erfrischungen im Auerhahn» – womöglich das berüchtigte Göttinger Bier? – den Magen verdorben, denn auf dem Rückweg muss er sich übergeben. In Goslar mietet er ein Pferd und reitet die 40 Kilometer lange Strecke zurück nach Braunschweig.
Am 1. Juni erhält Gauß einen Brief von Pfaff, der ihn auf einige Fehler in der Dissertationsschrift hinweist, um anschließend offen und klar eine Darstellungsschwäche anzusprechen: «Ich bin der Meinung, dass man beym Schreiben sich selbst die Pflicht aufzulegen hat, auch für die Bequemlichkeit des Lesers zu sorgen, selbst wenn es gewissermaßen mit eigener Unbequemlichkeit verknüpft wäre» [GauX,1: 100]. Pfaff hat erkannt, dass Gauß nicht für den wissbegierigen und lernwilligen Studenten schreibt, sondern ausschließlich für die Ewigkeit und für die wenigen Kollegen, die die nächsten drei oder vier logischen Schrittfolgen im Geist überspringen können – eine Hürde, an der alle anderen Leser scheitern müssen.
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