Gauß: Eine Biographie (German Edition)
erteilt ihm «aus Attention für meine Autorschaft», wie Gauß von Zimmermann en passant berichtet, eine Sondergenehmigung. Bei allein rund 150 heute noch nachweisbaren Buchausleihungen – Detektivin Martha Küssner rechnet allerdings mit einer hohen Dunkelziffer verloren gegangener Karteikarten – muss er wohl seine Cavets bei verschiedenen Professoren eingesammelt haben. Auch bei Lichtenberg ist er gelegentlich zu Gast. Mehrere Tagebucheinträge des Physikers bezeugen, dass die Stunden im anregenden Gespräch mit dem interessanten jungen Mann verflogen sind. Lichtenberg lässt Grüße an den ehemaligen Kollegen Zimmermann in Braunschweig ausrichten und überlässt Gauß einen Stapel unterschriebener Blankozettel. Alles läuft also bestens, sollte man denken. Doch es kommt zu unvorhergesehenen Verzögerungen. Gauß scheint erschöpft zu sein und kränkelt, ohne zu sagen, was ihm fehlt. Danach schreibt er ganze Textpartien um. Der Drucker hält sein Versprechen nicht, wöchentlich drei Druckbogen zur Korrektur zu liefern. Bald stellt Kircher seine Arbeit eine Weile ganz ein, weil er sein Geschäft in Braunschweig aufgibt und nach Goslar umzieht, um dort eine Druckerei zu übernehmen. So gerät der Zeitplan gründlich durcheinander.
Im Herbst 1798 ist das herzogliche Stipendium abgelaufen. Gauß hat in einer der renommiertesten Bibliotheken Europas seinen Traum von der akademischen Freiheit optimal verwirklicht und in den drei Jahren im Wesentlichen das getan, was er eigentlich schon seit seiner Gymnasiastenzeit betrieben hat, nämlich seine privaten Mathematikstudien. Er hat das Material für seinen Neuaufbau der Zahlentheorie gesammelt und einen großen Teil seiner Untersuchungen ausgearbeitet. Gauß verabschiedet sich von seinem liebsten Freund Wolfgang Bolyai, der noch ein Jahr in Göttingen studieren wird. Sie wollen sich schreiben und verabreden außerdem, an jedem letzten Tag eines Monats, «des Abends zwischen 8 und 10, und vorzüglich um 9» [Bol: 9] die Pfeife zu rauchen, dem abwesenden Freund eine gestopfte Pfeife auf den Tisch zu stellen und dabei ihrer Freundschaft zu gedenken. Am 28. September verlässt Gauß Göttingen ohne Abschlussexamen und kehrt zurück in seine Heimatstadt. Dieses Mal gönnt er sich den Luxus, auf einem offenen Fuhrwerk mitzufahren. Allerdings gerät er «mit halb leerem Magen» in einen Regen, der die ganze Nacht andauert.
Unmittelbar nach seiner Ankunft in Braunschweig trifft er eine Vereinbarung mit einem Herrn Schröder aus der Nachbarschaft, der ihm ein Zimmer vermietet. Jetzt wohnt er auf der Wendenstraße, die parallel zum Wendengraben verläuft, keine fünf Minuten Fußweg von Mutters Küche entfernt. Drei Monate lang bleibt seine finanzielle Lage heikel, da Herzog Ferdinand trotz der schriftlichen Bitte Zimmermanns um eine Audienz nichts von sich hören lässt. Gauß verpasst die in Aussicht gestellte Gelegenheit, den Töchtern des russischen Diplomaten Graf Murawieff Unterricht zu geben, scheint aber in einem Brief an Bolyai auch nicht allzu traurig über die entgangene «lucrative Beschäftigung» zu sein. So lebt er eine Zeit lang auf Kredit. Schließlich gibt es noch genug an den Untersuchungen zu feilen. In diesem Winter 98/99 jedenfalls hat er wegen der Saumseligkeit des Druckers genügend Zeit, den fünften Abschnitt, das Herzstück der Arbeit, zum vierten Mal umzuschreiben, und berichtet Bolyai begeistert über die mit jedem Schritt gesteigerte Klarheit, die seine kühnsten Hoffnungen übersteige. Im Januar 1799 lässt ihm der Herzog mitteilen, er werde das bisherige Jahresstipendium von 158 Talern weiterzahlen. Allerdings wünscht Serenissimus , dass sein Untertan Gauß möglichst bald an der braunschweigischen Landesuniversität Julia Carolina in Helmstedt promoviere.
Bald nach seiner Rückkehr aus Göttingen hat er ohnehin Kontakt zu Johann Friedrich Pfaff aufgenommen, Mathematikprofessor an der Julia Carolina, und hat ihn bereits im östlichsten Zipfel des Herzogtums besucht. Für die knapp vierzig Kilometer lange Wanderung auf der gutbefestigten Landstraße zwischen Braunschweig und Helmstedt zählt er seine Schritte und notiert 45 053. Gauß inspiziert die Universitätsbibliothek, und Pfaff erlaubt ihm, auch seine privaten Bücher zu benutzen, denn das Collegium Carolinum in Braunschweig kann ihm auch jetzt noch keine angemessene Lektüre bieten. Er lässt sich eine Reithose schneidern, wie er Bolyai schreibt, um nicht stets zu Fuß nach Helmstedt
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