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Gauß: Eine Biographie (German Edition)

Gauß: Eine Biographie (German Edition)

Titel: Gauß: Eine Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hubert Mania
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Pfaff redet dem aufstrebenden Genius schnörkellos ins Gewissen. Er dürfe ruhig die Eigenschaften seiner mathematischen Objekte und die Schlussfolgerungen aus seinen Einsichten etwas ausführlicher und publikumsfreundlicher entwickeln, auch vorzugsweise durch Zeichnungen erkennbar machen, wodurch die «Concinnitaet des Ganzen» – Ebenmäßigkeit und Gefälligkeit – nicht leiden würde. Auch wenn Gauß freundlich auf Pfaffs Kritik reagiert und sich weitere Einlassungen wünscht: Genutzt hat es nichts. Gauß wird sich mit jeder neuen Arbeit zu einem Meister im Verwischen der Spuren entwickeln, die zu seinen ursprünglichen Gedanken führen könnten. In dieser Hinsicht eifert er wieder, bewusst oder unbewusst, seinem großen Vorbild Newton nach. Am 26. Juni reicht Gauß seine Schrift bei Pfaff ein, der zwei Tage später in einer Empfehlung an den Dekan der Julia Carolina schreibt: «Ich kann von dieser Abhandlung nicht anders als sehr vortheilhaft urtheilen, da sie von des Verfassers vorzüglichen Fähigkeiten und gründlichen Einsichten einen überzeugenden Beweis enthält, so daß nach deren demnächst zu erwartenden Abdrucke der Candidat unter diejenigen zu rechnen sein wird, deren Promotion unserer Facultät zur Ehre gereicht» [Hän: 46 f.]. Mehr als 200 Jahre später rangiert der Beweis auf den inoffiziellen, von Mathematikliebhabern geschaffenen Ranglisten stets unter den Top Ten der wichtigsten mathematischen Theoreme.
    Der Fundamentalsatz der Algebra ist eine verblüffend einfache Aussage über die Anzahl der Lösungen einer Gleichung. Demnach hat eine Gleichung mit einer Unbekanntenx eine einzige Lösung. Eine Gleichung mit x 2 hat zwei Lösungen. Und bei x 3 kommen drei Lösungen vor. Diese einfache Gleichsetzung zwischen dem Wert der hochgestellten Ziffer und der Lösungsanzahl mag in den Ohren eines Laien trivial klingen, um aber einen strengen Beweis dieser intuitiv plausibel scheinenden These zu führen, bedarf es des Scharfsinns und der Intelligenz der besten Mathematiker einer Epoche. Der Franzose Jean-Baptiste le Rond, genannt d’Alembert, hat 1746 einen Beweis vorgelegt, drei Jahre später auch Leonhard Euler. Carl Friedrich Gauß hat beide Arbeiten inspiziert, hat die vermeintlichen Beweise als lückenhaft enttarnt und ist zu dem Schluss gelangt, dass dieses imposante Lehrgebäude ein paar zusätzliche Stützpfeiler vertragen könnte. Hier begibt sich Gauß auf ein mathematisches Terrain, das in diesem letzten Sommer des 18. Jahrhunderts noch immer heftig umstritten ist. Es geht um die sogenannten «komplexen» Zahlen.
    Eine komplexe Zahl setzt sich aus zwei Komponenten zusammen: einer reellen Zahl und einer «imaginären» Zahl. Reelle Zahlen sind ganze Zahlen wie 3 und 4 oder Brüche wie ¾. Imaginäre Zahlen sind Vielfache der imaginären Einheit «i», die definiert ist als Wurzel aus –1. «Die europäischen Mathematiker des 16. Jahrhunderts … bemerkten, dass es zur Lösung gewisser algebraischer Probleme manchmal vorteilhaft war, die Existenz negativer Zahlen anzunehmen und darüber hinaus auch anzunehmen, dass man aus diesen Zahlen die Quadratwurzel ziehen könne» [Dev: 181], urteilt Ende des 20. Jahrhunderts der amerikanische Mathematiker Keith Devlin. Universalgenie Gottfried Wilhelm Leibniz ist 1675 begeistert vom Konzept des Imaginären in der Mathematik und spricht hymnisch von «einer feinen und wunderbaren Zuflucht des göttlichen Geistes, beinahe einem Zwitterwesen zwischen Sein und Nichtsein» [Alg: 244]. Von manchen Mathematikern und von den meisten Philosophen werden die imaginären Zahlen allerdings misstrauisch beäugt. Immanuel Kant beispielsweise, der wie ein Seismograph die Erschütterungen in der Ideenwelt seiner Zeit registriert, nennt in seinem Nachwort zu Soemmerrings aufregender These vom Gehirnwasser als Sitz der Seele die Wurzel aus –2 eine «unmögliche Zahl» und den Gedanken, «als wenn negative Größen weniger als Nichts wären … nichtig und ungereimt» [Kan: 215].
    Überhaupt scheinen sich die Philosophen gegen Ende des Jahrhunderts der Aufklärung über die Anmaßung der Naturwissenschaftler zu echauffieren, ihnen allmählich die Deutungshoheit über die Naturerscheinungen streitig zu machen. Kürzlich erst hat der ehrgeizige junge Philosoph Hegel in Jena per Dekret «bewiesen», es könne nicht mehr als die bereits bekannten Planeten im Sonnensystem geben. Was den ungerührten Amateurastronomen Wilhelm Herschel jedoch nicht hindert, umgehend den

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