Gauß: Eine Biographie (German Edition)
allgemein anerkannte Modell des Universums in der zivilisierten Welt rund um das Mittelmeer.
Im ersten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts rotieren im heliozentrischen Modell des Nikolaus Kopernikus Planeten, Erde und Mond in kreisförmigen Bahnen um die Sonne, die sich im Zentrum des Universums befindet. Dass sich die Erde drehen soll, kann dem katholischen Establishment nicht gefallen, das sich seit mehr als tausend Jahren schon auf den geozentrischen Himmel als Machtbasis stützt. Aber unglücklicherweise stimmen Kopernikus’ Berechnungen nicht. Er hat zwar mit der Sonne als Zentralleuchte am Himmel, um die sich alles dreht, das richtige Konzept gefunden, doch die selbstverständliche Annahme perfekter runder Kurven als Umlaufbahnen der Planeten bringt falsche Resultate hervor und verdirbt die Theorie des ehrgeizigen Astronomen. Da bleiben selbst die Vorhersagen des Ptolemäus genauer, denn was Kopernikus mit seinem Modell an ptolemäischen Bahnabweichungen einspart, rächt sich an anderer Stelle durch nicht eliminierbare Fehler.
Nach mehr als 4000 Jahren praktizierter Geometrie scheint die Kreislinie als Inbegriff der perfekten Umrundung so tief in das menschliche Gehirn eingebrannt zu sein, dass niemand auch nur auf die Idee kommt, es könne für die Planeten da draußen im Bann der Sonnenschwerkraft eine andere Umlaufbahn geben. Der Mann, der schließlich im wahrsten Sinn des Wortes den wirklichen Dreh herausfindet, heißt Johannes Kepler. Er stammt aus der schwäbischen Provinz und bringt es bis zum kaiserlichen Mathematiker in Prag und zu General Wallensteins Hofastrologen. Seine Mutter, eine Heilerin und Kräuterkundige, erregt die Aufmerksamkeit der heiligen Inquisition. Lange Jahre ist Kepler in Prag Assistent des Astronomen Tycho Brahe gewesen. Nach Brahes Tod kann er auf dessen umfangreiches Datenarchiv zugreifen. Nach gründlichem Studium der Marsbahn kristallisiert sich allmählich ein «unvollkommener», gestauchter Kreis, eine ovale Umlaufbahn heraus. Hundert Jahre nach den ersten kopernikanischen Entwürfen eines Planetensystems mit der Sonne als zentralem Himmelskörper erscheint 1609 Keplers Buch Astronomia nova mit dem entscheidenden verallgemeinernden Satz: «Ein Planet läuft auf einer elliptischen Bahn, und die Sonne befindet sich in einem der Brennpunkte der Ellipse.» Kepler findet außerdem einen direkten Zusammenhang zwischen der Entfernung der Planeten von der Sonne und ihrer Umlaufgeschwindigkeit. Je näher sie der Sonne kommen, desto schneller bewegen sie sich, je weiter sie sich von ihr entfernen, umso langsamer werden sie. In seinem dritten Gesetz stellt Kepler ein mathematisches Verhältnis zwischen den Umlaufzeiten zweier Planeten und ihrer Ellipsenachsen her. Erst jetzt ist die kopernikanische Wende wirklich vollzogen. Im heliozentrischen Modell des Universums haben die Planetenbahnen endlich ihre wahre Form gefunden: die Ellipse. Die Vorherrschaft des Kreises in der Astronomie ist gebrochen. Erstmals lassen sich die Koordinaten der Planeten im Weltraum präzise vorausberechnen.
Welche Faszination muss für die Menschen von einem Stück poliertem Bergkristall ausgegangen sein, das einen entfernten Gegenstand näher ans Auge heranholt. Kepler und sein Zeitgenosse Galileo Galilei können bereits mit einer raffinierten Kombination unterschiedlich geschliffener Linsen in einem Rohr den Himmel mustern. Dieses neue Instrument übertrifft die Sehkraft des bloßen Auges um das Achtfache. Plötzlich erkennt Galilei erstaunliche Details auf der Mondoberfläche und fertigt genaue Zeichnungen der Kraterlandschaft an, die in der Öffentlichkeit auf großes Interesse stoßen. Mit diesem einfachen Teleskop gelingt Galilei sogar schon die Beantwortung der seit langem offenen Frage nach der Beschaffenheit der Milchstraße. Schon in der griechischen Mythologie machten Geschichtenerzähler die Göttermutter Hera für den milchig-hellen Streifen am Nachthimmel verantwortlich. Sie habe beim unfreiwilligen Stillen des Zeus-Bastards Herakles den Säugling von sich gestoßen und dabei ihre kostbare Muttermilch am Himmel verspritzt. Galilei gibt eine wissenschaftlich nüchterne Antwort: Die Milchstraße sei eine Anhäufung unzähliger lichtschwacher Sterne, die das bloße Auge nicht als einzelne Himmelskörper identifizieren könne. Eine weitere Sensation gelingt Galilei mit der Entdeckung der vier größten Jupitermonde. Auch zwei Saturnringe bekommt er vor die Linse, kann sie aber nicht als solche
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