Gauß: Eine Biographie (German Edition)
das damals bekannte Universum doppelt so groß geworden. Uranus zieht seine Bahn noch weit jenseits des Saturns, der bis dahin als äußerster Planet des Sonnensystems galt. Braucht die Erde für ihre Bahn um die Sonne 365 Tage, so lässt sich Uranus dafür 82 Jahre Zeit. Seine Entfernung zur Sonne ist zwanzigmal größer als die der Erde zum Zentralgestirn. Nach dieser eher zufälligen Entdeckung, die Herschel ewigen Ruhm beschert, sind die Astronomen in den Sternwarten und die Feierabendsterngucker umso engagierter bei der Sache. Die Chancen, einen vergleichbaren Coup zu landen – so glauben sie –, stehen gut. Schließlich klafft eine enorme Lücke zwischen Mars und Jupiter, in der schon aus rein mathematisch-ästhetischen Gründen «noch ein besonderer Hauptplanet unseres Sonnensystems befindlich seyn müsse» [Zac: 115]. Professor Johann Elert Bode, der einflussreiche Direktor des Berliner Observatoriums, bringt sogar eine beeindruckende harmonische Zahlenreihe für die Abstände der Planeten zur Sonne ins Spiel, wonach sich ein zwar noch nicht entdeckter, aber mit Sicherheit existierender Himmelskörper in der als Zumutung empfundenen Lücke geradezu aufdrängt. Die Astronomengemeinde möchte diese sogenannte «Titius-Bode-Reihe» zwar nicht in den Rang eines mathematischen Gesetzes erheben, aber hat sich Herschels verkehrsungünstig gelegener Uranus nicht dennoch wunderbar proportional in dieses Zahlenschema eingefügt? Und ist dieses faszinierende Spiel mit den regelmäßigen Planetenabständen nicht obendrein eine Hommage an die Sphärenmusik der Pythagoreer und eine nachträgliche Bestätigung der Kepler’schen Harmonia mundi ?
Die Problematik des «fehlenden Planeten» brennt den Astronomen so sehr auf den Nägeln, dass 24 europäische Fachkollegen bei einem Treffen am 21. September 1800 in der Sternwarte Lilienthal bei Bremen den ersten astronomischen Club der Welt gründen, die «Vereinigte Astronomische Gesellschaft». Systematisch teilen sie den Tierkreis in 24 Inspektionszonen auf, um den zwischen Mars und Jupiter angeblich verborgenen «Weltkörper» aufzuspüren. Treibende Kraft hinter dieser bisher beispiellosen europäischen Kooperation führender Astronomen zwischen Themse und Newa, Stockholm und Palermo ist Franz Xaver von Zach, Direktor der Seeburg-Sternwarte in Gotha. Er selbst spricht von einer «streng organisierten Himmels-Polizey» [Zac: 122]. Kein Detail bleibt dabei dem Zufall überlassen. So hat Gothas wissenschaftsfreundlicher Herzog Ernst II. in vorauseilender Beflissenheit bereits einen Namen für den noch zu entdeckenden Planeten zwischen Mars und Jupiter vorgeschlagen: die für notorische, aber begründete Eifersuchtsszenen und universelle Zickigkeit berüchtigte Hera oder ihre römische Entsprechung Juno, Tochter des Saturn, Schwester und Gemahlin des Jupiter. «So hätte Jupiter seine Eltern und Vorfahren über sich, seine Gemahlin und seine Kinder unter sich», schreibt Zach [Zac: 134] über die zukünftigen inzestuösen Familienverhältnisse am Himmel – offenbar keine Konstellation, die heikel genug wäre, um einen Angehörigen des sächsischen Adels zu schockieren.
Schon drei Monate nach der Gründung des Sternenclubs glaubt der italienische Astronom Giuseppe Piazzi, fündig geworden zu sein. Kurz vor 9 Uhr abends des 1. Januar 1801 taucht der Vollmond Palermo in sein silbriges Licht. In dieser außergewöhnlich hellen Nacht entdeckt Piazzi ein lichtschwaches Objekt im Zeichen des Stiers, etwas unterhalb der Plejaden, das er zunächst als Kometen «ohne Lichtnebel oder Schweif» identifiziert. Später beschreibt er ihn als einen Stern von 8. oder 9. Größe. Noch hat ihn das Mitgliedsdiplom aus Lilienthal in seiner Sternwarte in Palermo gar nicht erreicht. Die aus Sizilien in Berlin und Gotha eintreffenden Beobachtungsdaten sind spärlich, aber ermutigend. Als Bode aus den Informationen provisorisch den Abstand des unbekannten Objekts von der Sonne und seine Umlaufzeit überschlägt, nimmt seine Kommunikation mit Zach dramatische Züge an. Denn der Direktor der Gothaer Sternwarte erinnert sich an seine «geträumten Analogien», die er angeblich bereits 16 Jahre zuvor auf einem Zettel notiert und versiegelt hat, nämlich Näherungsrechnungen für Bahn und Umlaufzeit dieses geradezu herbeigesehnten neuen Planeten zwischen Mars und Jupiter. Die Zahlen sind fast auf die Dezimalstelle identisch mit Bodes Berechnungen aus Piazzis Daten.
Nun gibt es keine Zurückhaltung
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