Gauß: Eine Biographie (German Edition)
mehr. Das zunächst als Komet identifizierte Himmelsobjekt kann nur der so lange gesuchte Planet sein. Bode informiert jetzt die wichtigsten Zeitungen, und auch in Mailand, Paris, London und Petersburg nehmen die Kollegen die Verfolgung von Hera am Himmel auf. Vergeblich, denn «das kleine Gestirn war bereits zu nahe an die Sonne gerückt, so dass es ganz in ihre Strahlen, und in die Dünste des Horizonts versenkt seyn musste» [Zac: 126 f.]. Aus den unvollständigen und unzulänglichen Beobachtungsdaten wagt Zach eine erste Bahnberechnung. Dabei wird er den Verdacht nicht los, Piazzi halte die entscheidenden Daten womöglich absichtlich zurück, um die Wege der Hera als Erster zu berechnen, wofür jeder Wissenschaftler natürlich Verständnis zeigt.
Zur gleichen Zeit, im Frühsommer 1801, als die astronomische Gemeinde über die designierte Hera in Aufregung gerät, wartet in Braunschweig ein Doktor der Philosophie auf die Drucklegung seiner Arithmetischen Untersuchungen und vertieft sich gerade in die mathematischen Probleme, die sich aus den Unregelmäßigkeiten der Mondbahn ergeben. Dass Gauß ausgerechnet astronomische Studien betreibt und speziell die erdnahen und erdfernen Bewegungen des Mondes untersucht, mag mit dem Wunsch zusammenhängen, langfristig von den Zuwendungen des Herzogs unabhängig zu werden und einen Beruf auszuüben, der ihm ein geregeltes Einkommen sichert. Immerhin hat er bei Felix Seyffer in Göttingen ein astronomisches Grundstudium absolviert, und die Berufsaussichten für Astronomen sind freundlicher als die für Mathematiker. Denkbar ist auch, dass es Fingerübungen für die lukrativen Preisaufgaben der Pariser Akademie der Wissenschaften sind, die in dieser Zeit die Schwierigkeiten der Mondtheorie thematisieren. Da treten die besten Wissenschaftler der Welt in einen Wettstreit um die richtigen Lösungen oder die beste Annäherung. Neben hohem wissenschaftlichen Prestige sind auch erhebliche Geldbeträge im Spiel.
An die Problematik der Mondbewegung muss auch Zach in der Herbstausgabe seiner Astronomiezeitschrift Monatliche Correspondenz zur Beförderung der Erd- und Himmelskunde denken, in der er die bedeutsame Entdeckung Piazzis ausführlich würdigt. Denn angesichts der gewaltigen Dimensionen des Jupiters, dessen Gravitationsfeld Heras Wege empfindlich stören muss, graust es ihm beim Gedanken an die Berechnung ihrer Bahn: «Die so schwierige Theorie des Mondes würde nur ein Elementar-Calcul gegen die eines Weltkörpers von solch veränderlicher Bahn sein.» * Dennoch hofft er, Piazzis Entdeckung möge genügend Begeisterung unter den Mathematikern auslösen, um bessere Verfahren zur Berechnung der Bahnstörungen hervorzubringen. Denn die Planeten stören durch ihre Bewegungen die Pfade der anderen Himmelskörper – eine komplizierte wechselseitige Beziehung. «Allein der Geometer, der alle Coordinaten der Bewegung jedes Weltkörpers … darstellen könnte, ist vielleicht kein Wesen unseres Erdballs» [Zac: 132 f.]. Da trifft es sich doch ausgezeichnet, dass Professor Zimmermann ein Exemplar der von Zach’schen Monatlichen Correspondenz einem stets etwas unterfordert wirkenden jungen Gelehrten in die Hand drückt. Im Hintergrund zieht Zimmermann unterdessen geschickt die Fäden für eine Karriere seines Schützlings in St. Petersburg. Als zeitgleich mit Bode und Zach ernanntes korrespondierendes Mitglied der russischen Akademie der Wissenschaften schickt er Exemplare von Gauß’ Dissertation nach Petersburg und trommelt vorsorglich für die noch nicht erschienenen Untersuchungen , um seinem Schützling ein glänzendes Entree zu verschaffen. In einem Brief vom 19. 11. 1800 gibt Zimmermann ein rührendes persönliches Bekenntnis über seine Beziehung zum dreiundzwanzigjährigen Gauß ab: «Er ist unstreitig einer der seltensten Köpfe aller Nationen … ich freue mich, dass ich ihn meinen Pflege-Sohn nennen darf» [Rei: 87].
Nach der Lektüre des Zach’schen Berichts über die aufregenden Nachrichten aus Palermo bricht Gauß seine Mondberechnungen kurzerhand ab und beugt sich über die spärlichen Hera-Daten. Inzwischen hat Giuseppe Piazzi allerdings von seinem Entdeckerrecht Gebrauch gemacht und einen anderen Namen ins Spiel gebracht. «Ceres Ferdinandae» verdrängt die in Gotha und Berlin favorisierte Hera. Piazzi verbindet Ceres – sprich: Kerreeß –, die römische Göttin des Ackerbaus und Schutzpatronin von Sizilien, mit dem Namen seines Dienstherrn, König Ferdinand
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