Gauß: Eine Biographie (German Edition)
IV. von Neapel. Doch wie schon beim Uranus, den Herschel eigentlich zu Ehren des englischen Königs Georg III. «Georgsstern» – Georgium Sidus – nennen wollte, kann sich in der Astronomiegemeinde auch dieses Mal der Name eines Sterblichen nicht gegen die römische Götterclique durchsetzen. So bleibt es schließlich bei Ceres, Tochter des Saturn, in deren Zuständigkeitsbereich Gedeih und Verderb von Getreidewaren fallen, also nicht allein Brot, sondern auch Bier. Das Ceres-Jagdfieber hat nun alle europäischen Sternwarten erfasst. Es summt und brummt in den großzügig ausgestatteten Observatorien mit ihren glänzenden Spiegelteleskopen und Winkelmessgeräten.
Im Oktober weiß Gauß, dass alle namhaften Astronomen bei dem Versuch gescheitert sind, den neuen Planeten beim Austritt aus dem Einflussbereich der Sonne wieder aufzufinden. Das von Piazzi beobachtete Bahnstück der Ceres ist nach den herkömmlichen Maßstäben der Astronomie um die Jahrhundertwende einfach zu kurz, um daraus die vollständige Bahn ableiten zu können. Eilig werden Hypothesen aufgestellt und gleich wieder verworfen. Elliptische Bahnberechnungen können nur von willkürlichen Annahmen über den sonnennächsten und sonnenfernsten Punkt der Bahn ausgehen. Der renommierte Astronom Wilhelm Olbers schlägt deshalb eine Kreisbahn zur Berechnung des Wiedereintritts von Ceres in die Beobachtungssphäre vor, was Piazzis eigenem Ansatz entspricht. Zach steuert eine Tabelle mit den wahrscheinlichen Positionen für die November- und Dezemberwochen bei. So ermutigt man sich gegenseitig und wuselt nervös zwischen Teleskop und Rechenpapier hin und her. Die optimale Vernetzung der kompetentesten Fachgelehrten kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie Ceres aus den Augen verloren haben und nicht wissen, wo sie sie suchen sollen. Selbst Johann Hieronymus Schröter, in Lilienthal Direktor der leistungsfähigsten Sternwarte der Welt, steht mit leeren Händen da. So bleibt nur die Hoffnung auf einen ähnlich glücklichen Zufall, wie er bei Piazzis Glanzleistung am Neujahrstag unter Vollmondillumination oder bei Herschels Uranusentdeckung im Spiel gewesen ist.
Von glücklichen Zufällen hält der Untermieter von Herrn Schröder in der Braunschweiger Wendenstraße nicht viel. In seinem winzigen Zimmer stehen ihm keine hochwertigen Beobachtungsinstrumente zur Verfügung. Er besitzt nicht einmal ein kleines Taschenfernrohr. Dafür übersteigt seine Vorstellungskraft die Auflösungswerte der besten Herschel-Teleskope. Er will von einer Ellipsenbahn für Ceres ausgehen, die auf keinerlei willkürlichen Annahmen gegründet ist. Um die Bahn eines Himmelskörpers bestimmen zu können, sind drei gemessene Positionen am Sternenhimmel nötig. Weil Bahnelemente und beobachtete Koordinaten durch komplizierte Wechselwirkungen miteinander verknüpft sind, kann es statt präziser Berechnungen zunächst nur Annäherungen geben. Gaußens neue Vorstellungen von der Bahnbestimmung unterscheiden sich nun grundsätzlich von denen der Profis in ihren stattlichen Sternenpalästen. Sie beruhen auf dem Grundgedanken, «eine Gleichung zwischen den Abständen des Planeten von der Sonne und von der Erde in der mittleren Beobachtung» [Bre: 155] aufzustellen, die ausdrücklich von Hypothesen frei sein soll.
In dieser ersten Annäherung von Carl Friedrich Gauß an den abgetauchten neuen Planeten stellen vielerlei Variablen ein Beziehungsnetzwerk her. Dazu gehören unterschiedliche Blickwinkel eines hypothetischen Betrachters im Erdmittelpunkt auf die Lage der Ceresbahn im Weltraum sowie ihre Neigung zur Bahn der Erde um die Sonne. Schnittgeraden und Tangenten kommen ins Spiel, die bestimmten Winkeln gegenüberliegen, sowie die Positionen des Himmelskörpers zu bestimmten Zeiten. Eingebettet ist dieser neue Gauß’sche Ansatz in die Gesetze der Kepler’schen und Newton’schen Himmelsmechanik. Er selbst hält ihn außerdem für ein abkürzendes Verfahren bei der Planetenbahnbestimmung. Entscheidend sind hierbei seine Methoden der Fehlerreduzierung, die er bereits als Siebzehnjähriger entwickelt hat. Als er sieht, dass seine Resultate sich von denen der Profiastronomen erheblich unterscheiden, fühlt er sich bestätigt, auf dem richtigen Weg zu sein, und schickt seine Daten sowie eine Tabelle mit sieben Vorausberechnungen der Ceres-Positionen zwischen dem 25. November und 31. Dezember an Zach.
Der ist beeindruckt von den Berechnungen des jungen Doktors der Philosophie und lobt
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