Gauß: Eine Biographie (German Edition)
zu thematisieren, zumal die Aussicht auf die Göttinger Professur besser kaum sein könnte und die dortige Universitätsbibliothek noch immer eines der überzeugendsten Argumente für einen erneuten Umzug an die Leine ist.
Weder dem Landesfürsten noch seinem inzwischen berühmt gewordenen Protegé ist bewusst, dass diese Audienz im Mai 1806 ihre letzte persönliche Begegnung gewesen sein könnte. Am 12. Juli treten 16 west- und süddeutsche Fürsten auf Druck Napoleons aus dem Verbund des Deutschen Reiches aus und werden zu Vasallen des französischen Kaisers. Napoleon stellt nun dem deutschen Kaiser Franz II. ein Ultimatum, seinen Rücktritt zu erklären. Am 6. August 1806 dankt er ab. Damit endet nach 850 Jahren Existenz das Heilige Römische Reich Deutscher Nation.
Zur gleichen Zeit melden Kuriere und politische Beobachter, dass napoleonische Truppen sich aus allen Himmelsrichtungen auf Preußen zubewegen. Am 21. August hält Carl Wilhelm Ferdinand in seinem Schloss gemeinsam mit Generalstabschef Gerhard Scharnhorst und General Ernst von Rüchel Kriegsrat. Die drei Strategen entwerfen die Großraumtaktik zur Verteidigung Preußens auf der Linie Paderborn, Göttingen, Magdeburg, Halle an der Saale vor den Truppen Napoleons. Im Haus Nummer 1917 am Steinweg, nur einen Katzensprung vom herzoglichen Schloss entfernt, bringt am selben Tag Johanna Gauß ihren ersten Sohn zur Welt. Die Eltern taufen ihn nach dem Ceres-Entdecker Giuseppe Piazzi auf den Namen Joseph.
Am 9. Oktober erklärt Preußen Napoleon den Krieg. König Friedrich Wilhelm III. ernennt den greisen Herzog von Braunschweig zum Oberbefehlshaber von 130 000 Mann gegen eine Übermacht von 200 000 französischen Soldaten, die von Süddeutschland aus ins Thüringische vorrücken. Am Vorabend der großen Doppelschlacht von Jena und Auerstedt ist einer der bedeutendsten deutschen Publizisten im Heerlager anwesend. Friedrich von Gentz hat bei der Formulierung des preußischen Kriegsmanifests mitgearbeitet. Er nimmt die Gelegenheit wahr, bei einer halbstündigen «Unterredung» – heute hieße das wohl Interview – den Heerführer näher kennenzulernen. Gentz, für seine leidenschaftlich antifranzösische Haltung bekannt, hat den Eindruck, dass den Mann die Kriegshandlungen, die er hier leitet, im Grunde nichts angehen und er sich lediglich die Rolle vorbehalte, die Pläne der anderen Militärs zu kritisieren. Gentz notiert in sein Tagebuch: «Er hatte in seiner ganzen Haltung … in seinen Blicken … in seiner Sprache irgend etwas Unsicheres, Unklares, Kraftloses, eine Erregung, die keineswegs ein Selbstbewusstsein verkündete, eine gewisse Höflichkeit, die im voraus um Entschuldigung zu bitten schien für Unglücksfälle, die ihm begegnen konnten, eine … Furcht, der öffentlichen Erwartung nicht zu entsprechen» [Ste: 340]. Vielleicht ist er ja wirklich schon zu alt, zu erfahren und zu desillusioniert, um noch Siegeswillen und Führungsstärke vorzutäuschen. «Ach, ich kann ja kaum für mich einstehen, wie soll ich da für andere einstehen?», soll er von Gentz gesagt haben.
Beim ersten Aufeinandertreffen der feindlichen Armeen wird Herzog Carl Wilhelm Ferdinand am 14. Oktober 1806 bei der Ortschaft Hassenhausen von einer Gewehrkugel getroffen. Sie dringt in das rechte Auge ein und zertrümmert ihm auch Nasenbein und linkes Auge. Er wird hinter die Kampflinien nach Auerstedt gebracht, notdürftig medizinisch versorgt und anschließend in sechs beschwerlichen Tagesreisen zurück nach Braunschweig gefahren. Jetzt ist er blind wie seine beiden Söhne. Die sind mit ihrer Mutter Augusta schon nach Stralsund auf schwedisches Hoheitsgebiet geflüchtet. Die preußische Armee Friedrich Wilhelms III. wird bei Jena und Auerstedt vernichtend geschlagen und Preußen von Napoleon besetzt. Als letzte Amtshandlung schickt der Herzog den Oberstmarschall Münchhausen als Gesandten zu Napoleon, um den Kaiser zu bitten, das Herzogtum Braunschweig zu verschonen. Er sei nur in seiner Funktion als Befehlshaber der preußischen Armee gegen ihn angetreten und nicht als Braunschweiger Herzog. Napoleon reagiert mit Wut und Verachtung. Jetzt ist die Stunde der Rache für das unvergessene Ultimatum Carl Wilhelm Ferdinands von 1792 gekommen. Als Heerführer des Campagne-Feldzugs hatte er gedroht, Paris zu zerstören, falls man Ludwig XVI. nicht freiließe. Vierzehn Jahre später entlädt sich der Hass der Franzosen auf den Welfenherrscher. Napoleon Bonaparte kündigt ihm
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