Gauß: Eine Biographie (German Edition)
französische Kriegsgefangenschaft für den Fall an, dass man seiner habhaft werde.
Am Samstag, den 25. Oktober 1806, um vier Uhr nachmittags ist es dann so weit: Sein Krankenbett wird für die Flucht auf dänisches Staatsgebiet in einen eigens angefertigten Korb gelegt, der mit einer Decke aus Wachstaft ausgepolstert ist. «So ward er, wie in einem Sarg, die große Treppe des … Schlosses hinabgetragen … ich folgte ihm wie einer Leiche. Unten hielt ein Unterwagen, in dessen vier Federn jener Korb gehängt ward. Der Schloßplatz war mit weinenden Menschen bedeckt. Dumpf rollte der Wagen durch die Hallen des Schlosses …» [Ste: 348], berichtet Carl Wilhelm Ferdinands Minister Anton von Wolffrath. Tausende Braunschweiger Bürger begleiten die letzte Fahrt ihres Herzogs bis zum Wendentor. Durch die Lüneburger Heide geht die anstrengende Fahrt. Die Erschütterungen des Wagens verschlimmern seinen Zustand. In Ottensen bei Altona findet er schließlich ein Zuhause für die letzten Tage seines Lebens. Am 10. November 1806 stirbt Herzog Carl Wilhelm Ferdinand im dänischen Exil.
Zweifellos wird auch Gauß die Flucht des Herzogs beobachtet haben, seines Gönners, der ihm 15 Jahre lang ermöglicht hat, sein Potenzial zu entwickeln, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten. Nur einen Tag nach der Flucht Carl Wilhelm Ferdinands rücken französische Soldaten in Braunschweig ein und nehmen Stadt und Herzogtum im Namen Napoleons in Besitz.
Am 11. November berichtet Gauß vom Chaos der Besatzung Braunschweigs. Die Musen seien vom Waffengeräusch scheu geworden. Ihm selbst fehle für die Arbeit an der Theorie der Planetenbewegungen nach Kepler momentan «die nöthige Heiterkeit des Geistes». Ob Gauß sein Jahresgehalt als herzoglicher Beamter ohne Portefeuille auch unter napoleonischer Herrschaft weiter ausgezahlt bekommt, ist fraglich. Sein Freund Wilhelm Olbers bietet dem jungen Familienvater einen Privatkredit an – jederzeit. Mit dem Tod des preußischen Heerführers Carl Wilhelm Ferdinand ist nicht nur Gauß’ Mäzen gestorben, mit Napoleons Sieg ist auch das Ende der feudalistischen Ära eingeleitet worden. Unter großen Opfern und Schmerzen wird sich allmählich bürgerliches Recht und Gesetz Bahn brechen. Gauß muss an diesem Wendepunkt der Geschichte trotz der als Unrecht empfundenen Besatzerwillkür erkennen, dass er sich vom Mäzenatentum unabhängig machen muss. Der Plan für die Sternwarte Braunschweig ist mit dem Herzog begraben worden.
Am 27. November klopft der französische Bataillonskommandeur Chantel an die Wohnungstür der Gaußfamilie am Steinweg, um sich im Namen eines gewissen Fräuleins Sophie Germain in Paris nach dem werten Befinden des neuen französischen Untertanen zu erkundigen. Gauß kennt keine Frau dieses Namens und ist einigermaßen verblüfft über diesen Besuch. Es stellt sich heraus, dass sein französischer Briefpartner Leblanc, der ein so hervorragendes Verständnis für die Arithmetischen Untersuchungen gezeigt und Gauß zu neuen kreativen Seitensprüngen ins mathematische Fach veranlasst hat, ein Pseudonym ebendieser Sophie Germain aus Paris ist. Die ein Jahr ältere Französin hat es nicht gewagt, unter ihrem richtigen Namen an ihr großes Idol zu schreiben, weil sie befürchtet, als gelehrte Frau nicht ernst genommen zu werden. Als sie von der Besetzung Braunschweigs gehört hat, bittet sie den in Breslau stationierten General Pernety, einen Freund der Familie, sich um Gaußens Wohlergehen zu kümmern. Der wiederum schickt Chantel zu Gauß. Anlass ihrer Sorge ist die Geschichte über den griechischen Mathematiker Archimedes, der im 3. Jahrhundert vor Christus die römische Belagerung seiner Heimatstadt Syrakus auf Sizilien nicht überlebte. «Störe meine Kreise nicht», soll er einen römischen Soldaten angeherrscht haben, der mit seinen Sandalen die archimedischen Konstruktionen im Sand verwischte, worauf der wütende Römer ihn angeblich erschlagen habe. Was geschähe wohl, spekuliert Sophie Germain, sollte Gauß, ähnlich absorbiert von den virtuellen Tangenten und Ellipsen im Blickfeld seines Teleskops wie Archimedes von seinen Sandkreisen, etwa den Befehl eines französischen Besatzungsoffiziers überhören? Ihre Angst um das Schicksal des deutschen Mathematikers ist rührend, aber unbegründet. Nie würde Gauß es wagen, gegen die Obrigkeit, egal ob deutscher oder französischer Zunge, aufzubegehren.
Germain hat Mathematik studiert – ein bestaunter Paradiesvogel in
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