Gauß: Eine Biographie (German Edition)
Enthusiasmus weckt er in Gauß eine alte Leidenschaft, die seit den Tagen seiner ersten geodätischen Messübungen im Sommer 1803 in den Braunschweiger Fluren nie ganz erloschen ist. Zumal er dabei seine unvergessene Johanna im Fadenkreuz seines Sextanten entdeckte.
Er war auch dabei, als Zach unbrauchbare Kanonenrohre in der Erde versenkte, um die Endpunkte der Basislinienmessung an der Seeberger Sternwarte zu kennzeichnen. Drei Jahre später, nach dem Sieg Napoleons über Preußen in der Schlacht bei Jena und Auerstedt im Oktober 1806, soll der Magistrat von Gotha in nur 80 Kilometern Entfernung vom Kampfgetümmel «nichts Angelegentlicheres zu thun gehabt haben, als diese Kanonen schnell wieder ausgraben zu lassen, um keinen Verdacht bei den Franzosen zu erregen, dass man das Geschütz vor ihnen versteckt habe», schreibt Gauß an seinen Freund Olbers [Olb1: 680]. So seien die Endpunkte der Zach’schen Vermessungen, an denen Gauß teilnahm, «auf wahrhaft Schildaische Art» verloren gegangen und die peinlich genaue Arbeit eines ganzen Sommers zunichtegemacht.
Doch an diesem Sommertag des Jahres 1816 lässt sich Gauß ködern. Er gratuliert Schumacher geradezu überschwänglich zu seinem Coup und erklärt sich bereit, die Triangulation durch das Königreich Hannover selbst zu übernehmen. Allerdings erreiche ihn dieser Brief mit dem verlockenden Angebot ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, da er gerade sündhaft teure astronomische Geräte in München eingekauft habe. Er wolle nicht gleich wieder in die ungeliebte Rolle des Bittstellers schlüpfen und mit den Behörden über die Finanzierung einer solch gewaltigen Unternehmung verhandeln müssen. Dass er jedoch über seinen Astronomiegeschäften in all den Jahren seine geodätischen Ambitionen nicht ganz und gar vernachlässigt hat, wird deutlich, als er auf die rechnerische Auswertung der gemessenen Dreiecke zu sprechen kommt. Er habe nämlich bereits eine eigene Methode entwickelt, denn die bekannten Verfahren halte er sämtlich für «herzlich wertlos» [GauIX: 368]. Der weltgewandte Schumacher, der regelmäßig mit dem dänischen König plaudert, verspricht Gauß, seine persönlichen Beziehungen in London spielen zu lassen, um dem englischen König Georg IV. eine Empfehlung zu entlocken, besser noch: einen Befehl an Gauß, das Königreich Hannover zu vermessen.
Zwei Jahre später, im Sommer 1818, als Gauß noch immer auf seinen Meridiankreis von Reichenbach wartet, steckt Schumacher mitten in seiner dänischen Triangulation und möchte sich so schnell wie möglich mit Gauß treffen, um sein Dreiecksnetz von dänischem auf hannoversches Staatsgebiet zu übertragen. Der Turm der Lüneburger Michaeliskirche sei ein strategisch idealer Punkt. Von dort aus sei auch der Michaelisturm in Hamburg sichtbar. Ob man sich nicht vielleicht in Lüneburg treffen könne, schlägt Schumacher vor. Vorzugsweise um Michaelis, also Ende September. Und sei es nicht angesichts der günstigen Gelegenheit – allzu lange könne er die dänischen Signaltürme nämlich nicht mehr für Gauß reservieren – sogar zumutbar, die Reise auf eigene Kosten zu machen? Gauß ziert sich. Auf eigene Kosten mag er nicht reisen. Aber auch das «Sollicitieren» – die Auseinandersetzung mit den Behörden um Reisegeld und Spesen – ist ihm so zuwider, dass er, in ziemlich missmutiger Stimmung, offenbar noch geschwächt durch eine gerade überwundene Krankheit, schon auf diese wichtige Anschlusstriangulation mit dem Freund verzichten will. Der aber, noch voll im Schwung seines großen Werks und äußerst geschickt im Umgang mit Dienststellen, setzt sich mit dem hannoverschen Minister Arnswaldt in Verbindung, der Gauß sofort offiziell beauftragt.
Tatsächlich trifft er zu Michaelis in Lüneburg ein. Es wird dem einundvierzigjährigen Gauß hier oben, im steinernen Turm der St. Michaeliskirche, bewusst sein, dass mit diesen ersten Winkelmessungen auch für ihn jetzt ein neuer Lebensabschnitt beginnt. In solchen klassischen Anfangssituationen geschieht es nicht selten, dass die gespannte Aufmerksamkeit auch noch den kleinsten Umständen und Einzelheiten eine besondere Bedeutung beimisst. Man sucht nach einem Zeichen für ein gutes Gelingen der neuen Arbeit oder Beziehung und projiziert die eigenen Wünsche und Unsicherheiten mit sonst nur selten verfügbarer Leidenschaft auf die Leinwand äußerer Ereignisse.
Ein solcher denkwürdiger Augenblick wird sich auch Carl Friedrich Gauß einprägen. Da steht
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