Gauß: Eine Biographie (German Edition)
er mit seinem Winkelmessgerät im Turm der Lüneburger Michaeliskirche und fühlt sich beim Beobachten gestört, weil sich im gut erkennbaren, 45 Kilometer entfernten westlichen Turmfenster der St. Michaeliskirche in Hamburg – volkstümlich «Michel» genannt – gerade der Schein der Sonne spiegelt. Die nie verblasste Erinnerung an dieses eigentlich banale Ereignis wird ihn zwei Jahre später zu einer genialen Erfindung inspirieren, die die Triangulationspraxis revolutionieren wird.
Im Juni 1820 trägt die unermüdliche diplomatische Tätigkeit Schumachers in London endlich Früchte. Gauß erhält die offizielle Order von Georg IV., König von Großbritannien und Hannover, die dänische Gradmessung durch das Königreich Hannover fortzusetzen. Finanziert wird die Unternehmung aus Georgs persönlicher «Chatoul Casse», heißt es im Bescheid an Gauß. Obwohl man sich in Hannover schon wundert, dass Gauß nicht persönlich an den Verhandlungen beteiligt gewesen ist und Schumacher vorgeschickt hat.
Im September 1820 reist Gauß in die leicht hügelige, von Knicks durchzogene holsteinische Landschaft. In dem kleinen Ort Braak zwischen Hamburg und Ahrensburg hat Schumacher mit den Messungen für die gemeinsame Basislinie begonnen [Koc: 11 – 23]. Die Endpunkte der Linie sind sowohl vom dänischen Lauenburg als auch vom Wilseder Berg auf hannoverschem Hoheitsgebiet aus sichtbar. Schumacher ist mit einem eindrucksvollen Tross unterwegs. Zwölf Pferde sowie fünf Kutschen und Fuhrwerke stehen ihm zur Verfügung. Die Apparate und Messgeräte werden nachts von Soldaten bewacht. Der südliche Anfangspunkt der Basislinie bei Langelohe wird durch einen Granitpfeiler markiert, während der nördliche Endpunkt bei Stellmoor zur besseren Sichtbarkeit mit einem etwa zwölf Meter hohen Gerüst versehen wird. Alle Büsche, Hecken, Knickgehölze und andere Hindernisse auf dieser knapp sechs Kilometer langen Linie werden aus dem Weg geräumt, hin und wieder eine Erhebung weggeschaufelt, an anderen Stellen Erde aufgeschüttet, bis man mit dem Theodoliten eine Fluchtlinie von einem Ende zum anderen ziehen kann. Mit Eisen beschlagene Eichenpfähle werden nun entlang dieser Linie in die Erde gerammt. Eine Messstange ist drei Meter achtzig lang und steckt in einem Holzkasten, in den vier Glasfenster eingelassen sind. Sie geben den Blick frei auf vier Thermometer, denn nur bei 20,31 Grad Celsius ist diese Länge der Eisenstange garantiert. Wenn es kälter oder wärmer ist, muss dieser Umstand bei der Streckenberechnung berücksichtigt werden. Vier Männer werden gebraucht, um eine Messstange zu tragen. Sie werden in ihren Kästen auf Holzböcke gelegt. Nur die beiden Enden der Stange schauen vier Zentimeter heraus. Im Holzkasten integrierte Präzisionswasserwaagen sorgen für eine gerade Lage, sodass kein Millimeter verschenkt wird. Schumacher stoppt die Zeit. Im Durchschnitt brauchen seine Leute zum akkuraten Verlegen einer Stange 4 1/6 Minuten. So schaffen sie ein tägliches Pensum von etwa hundert Stangenlängen. Das sind 380 Meter. Doch schon bald muss die Arbeit wegen schlechter Witterungsbedingungen abgebrochen werden. Erst im Herbst des nächsten Jahres bringen Schumacher und seine Leute die Vermessung zum Abschluss.
Gauß muss seinen ursprünglichen Plan aufgeben, die Messungen in Schumachers Sternwarte in Altona zu beginnen und in Göttingen zu beenden, da ihm aufgrund mangelnder praktischer Erfahrungen die Schwierigkeiten unüberwindlich scheinen, geeignete Dreieckspunkte im heiklen Gelände der Lüneburger Heide zu finden. Die Landschaft ist stark bewaldet und zu flach. Die Bäume versperren die Sicht auf die Zielpunkte. Es fehlen Berge, die man anvisieren könnte. Selbst Hügel und bescheidenste Erhebungen sind rar. Schon die französischen Dreiecksingenieure sind an dem vermessungsfeindlichen Terrain gescheitert. Mit der Richtungsänderung von Süden nach Norden hofft Gauß, genügend Erfahrungen zu sammeln, um die problematische Heide im übernächsten Sommer dann besser in den Griff zu bekommen. Ausgangspunkt seiner Vermessungen soll nun also der Meridian der Göttinger Sternwarte werden. An dieser genauen Nord-Südlinie soll sich sein Dreiecksnetzwerk orientieren. Immerhin hat er gegen Ende des Jahres 1820 ein paar andere «verdrießlich harte Nüsse aufgebissen» [ShuI: 199] und endlich das Problem der durch Obstbäume versperrten Sicht zum nördlichen Meridianzeichen in der Feldmark gelöst. Bei den Verhandlungen mit
Weitere Kostenlose Bücher