Gauß: Eine Biographie (German Edition)
Einmannbetrieb lässt sich kein internationaler Spitzenrang mehr erobern. So verlagert sich sein wissenschaftliches Interesse. Es kommt ihm nicht mehr in erster Linie darauf an, die Bahnen ferner Sonnen, Planeten, Asteroiden und Kometen zu beobachten, sondern er wendet sich dem naheliegendsten Himmelskörper zu. Auf der Suche nach der wahren physikalischen Gestalt der Erde schickt Gauß sich nun an, die Grad- und Landvermessung in den Rang einer exakten Wissenschaft zu erheben. Da aber unser Planet unzweifelhaft zu einem Sonnensystem der Milchstraße gehört, um deren Erforschung sich traditionell die Astronomen bemühen, wird er als Geodät in der Wind-und-Wetter-Wirklichkeit der norddeutschen Tiefebene immer auch Astronom im weitesten Sinn bleiben.
Ende Juni sind die Exkursionen und Erkundungen der Landschaft abgeschlossen. Gauß und seine Gehilfen haben genügend untereinander sichtbare Bergspitzen gefunden, um von Göttingen bis Hannover lückenlos Dreiecke in die Luft schreiben zu können. Das soll die erste Etappe werden. Und dafür werden sie den ganzen Sommer unterwegs sein – mindestens bis Michaelis. Die bewaldete Kuppe des Hügels Lichtenberg bei Salzgitter, bis jetzt nordöstlichster Punkt der Triangulation und nur einen Katzensprung von seiner Heimatstadt Braunschweig entfernt, muss allerdings abgeholzt werden. Aber wer im Auftrag des englischen Königs an die Türen der Amtsstuben klopft, kann mit der Kooperation der Behörden rechnen. Und so ist die Genehmigung nur eine Formsache. Die 15 Meter hohe Holzstange mit dem geschwärzten, rund drei Quadratmeter großen Hütchen, die seine Soldaten auf dem Hilsberg, zehn Kilometer nordöstlich von Einbeck, errichtet haben, kann er jedoch vom Hohen Hagen aus mit dem Fernrohr seines besten Theodoliten auch bei größter Anstrengung nicht sehen, geschweige denn wissenschaftlich beobachten. Denn die Sichtbarkeit des Gipfels allein genügt nicht. Er muss schon den Hut dort auf der Stange eindeutig im Visier haben. Problematisch wird dieses Verfahren bereits dann, wenn das Signal vor einem dunklen Kiefernwald steht. Und häufig sind nicht einmal unzulängliche optische Geräte daran schuld, dass das Zielobjekt nicht aufgelöst wird, sondern ungünstige Witterungsverhältnisse. Bei trüber Sicht kann Gauß nur auf besseres Wetter hoffen und sich täglich von neuem in Geduld üben.
Oder er muss sich auf Nachtbeobachtungen einlassen, die manche seiner Kollegen sogar bevorzugen, um nicht in allzu große Abhängigkeit von den Unwägbarkeiten der Luftverhältnisse zu geraten. Dabei kommen sogenannte Argand’sche Lampen zum Einsatz, die mit Hohlspiegeln ausgestattet sind und den ausgewählten Dreieckspunkt beleuchten. Die Ölflamme lässt sich durch großzügige Luftzufuhr beeinflussen. Sie sind von ähnlicher Bauart wie die berüchtigten Reverberirlampen, die Joachim Heinrich Campe im Sommer 1789 erstmals in Paris in einem schaurigen Zusammenhang gesehen und für die er den gewöhnungsbedürftigen Begriff «Scheinwerfer» geprägt hat, der den meisten Zeitgenossen allerdings zu modern klingt. Gauß hat vorsichtshalber drei dieser Scheinwerfer bestellt, um in Einzelfällen auch nachts arbeiten zu können. Aber allein der Gedanke an den ständigen nächtlichen Aufenthalt auf schwer zugänglichen und zugigen Bergkuppen und an das Mitschleppen der schweren und unhandlichen Lampen bergauf und bergab genügt, um ihm die Nachtarbeit von vornherein zu verleiden. Was Wunder, dass Carl Friedrich Gauß längst eine völlig neue und überaus elegante Vermessungsmethode ersonnen hat, von der er sich nichts Geringeres verspricht, als beliebig lange Dreiecksseiten auch bei ungünstigen Bedingungen zu überbrücken. Das wäre eine Leistung, die vor ihm noch niemand vollbracht hat. Eigentlich müsste es funktionieren …
Eine ganz alltägliche Beobachtung zu Michaelis 1818 im Turm der St. Michaeliskirche von Lüneburg scheint ihn dauerhaft beeindruckt zu haben. Zwei Jahre später wird die beobachtete Spiegelung der Sonnenstrahlung im westlichen Fenster der Hamburger St. Michaeliskirche das auslösende Moment für die Begründung einer neuen Kunst gewesen sein – die Triangulation mit Sonnenlicht. Wenn die Reflexion der Sonnenstrahlen im 45 Kilometer entfernten Hamburg stark genug war, um seine Augen für einen Moment zu blenden, dann müsste doch diese Spiegelung, überlegt Gauß, auch über erheblich längere Strecken hinweg wenigstens im Fernrohr noch sichtbar sein. Er müsse nur
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