Gauß: Eine Biographie (German Edition)
den Gartenbesitzern, die ihm kein Freund abnehmen kann, lernt Gauß «Habgier und Halsstarrigkeit» der Obstbauern kennen und wünscht sich einen härter durchgreifenden Staat, der einfach den Befehl zum Fällen der Bäume gibt, den Eigentümern weniger Spielraum zum Feilschen um die Entschädigung lässt und sie «nötigen Falls … zur Willfährigkeit zwingt» [Olb2: 46]. Zunächst befürchtet er auch noch die weit heiklere Auseinandersetzung mit dem Besitzer einer Kegelbahn, die womöglich mitten auf der Meridianlinie seiner Sternwarte steht. Doch nachdem eine «schmale Allee» durch die Gärten geschnitten ist, stellt sich heraus, dass Gauß mit seinem Meridiankreis um Haaresbreite am Dachfirst der Vergnügungsstätte vorbeizielen kann. Alle anderen Lauben stehen nicht im Weg.
An ein paar schönen Tagen im Frühling 1821 macht Gauß in der näheren Umgebung von Göttingen ein paar vorläufige Messungen. Der fünfzehn Kilometer von seiner Sternwarte entfernte Hohe Hagen bietet sich als erster Dreieckspunkt geradezu an. Er besteigt die 480 Meter über dem Meeresspiegel liegende Erhebung, schaut sich um, improvisiert, peilt Punkte in der Landschaft an, die er später nie benutzen wird, notiert keine Winkelmaße, sondern beobachtet einfach nur spielerisch «ohne ängstliche Sorgfalt». Insgesamt geraten 72 Objekte in sein Visier, darunter das Gartenhäuschen des Mathematikprofessors Friedrich Thibaut, der Dachreiter auf dem Göttinger Rathaus, die Herkulesstatue in Kassel und eine namenlose Windmühle bei Clausthal. In Hannover hat Minister Arnswaldt inzwischen zwei Gehilfen für Gauß abkommandiert, den fünfunddreißigjährigen Hauptmann Georg Wilhelm Müller und den fünfundzwanzigjährigen Leutnant Friedrich Hartmann. Voraussetzungen und Fähigkeiten eines Vermessungsgehilfen, die Gauß’ Ansprüchen genügen, sind nicht unbedingt herausragende mathematische Kenntnisse oder astronomische Erfahrungen, sondern «vielmehr reger Eifer für die Sache, die größte Pünktlichkeit und Sinn für die größte Genauigkeit, eine gewisse praktische Anstelligkeit, einige Kenntnis vom Bauwesen, einige Bekanntschaft mit den Geschäftsgängen in unserem Lande bei … Behörden …» [GauIV: 483]. Wer Gauß den Gang zu einer Amtsstube ersparen kann, wird sich seiner stillen Dankbarkeit gewiss sein können.
Der sparsame Professor ist schockiert über die Kosten des ersten Signalturms aus frischgeschlagenem Tannenholz. Weil gleich zu Beginn der Unternehmung ein in dieser Höhe nicht veranschlagter Posten verbucht werden muss, fürchtet er die Überschreitung des Budgets und ahnt schon vor der ersten offiziellen Winkelmessung zukünftige Umstände voraus, «die mir diese Geschäfte noch oft sehr verbittern werden» [ShuI: 236]. Solche Äußerungen finden sich häufig in zeitlicher Nähe zu körperlichem Unwohlsein. Seine chronischen Magenbeschwerden machen ihm auch jetzt wieder zu schaffen und verdüstern seine Sicht auf die Welt. Seine Anfälligkeit für Hitze, wenn ihm jeder Schritt zu viel wird, macht ihn empfänglich für «Fatiguen» bei schwülwarmem Wetter, das Gift ist für seine Konstitution. So muss er gleich nach seinen spielerischen Aufwärmübungen, die ihn an die ähnlich zweckfreien ersten Sextantenübungen am Stadtrand von Braunschweig und an die Begegnung mit Johanna erinnert haben mögen, einige Tage lang das Bett hüten. Im Mai dann aber peilt der Königlich-Hannoversche Vermessungsingenieur Carl Friedrich Gauß von seinem Platz am Reichenbach’schen Meridiankreis aus erstmals keinen Stern an, sondern das von Leutnant Hartmann gebaute Signalgerüst auf dem Hohen Hagen. Die Achse des Meridiankreises in der Sternwarte ist jetzt als Nullpunkt der Breitengradmessung zwischen Göttingen und Altona definiert. Das große Werk hat begonnen.
Warum lässt sich Gauß auf dieses strapaziöse Abenteuer ein – ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als die neuerbaute Sternwarte endlich mit erlesenen Instrumenten perfekt eingerichtet ist und als eines der schönsten deutschen Observatorien gepriesen wird? Mit dem kompetenten Harding und ein paar begabten Studenten könnte er ein gutes Team von Messtechnikern zusammenstellen, so wie Bessel es in Königsberg getan hat, und die internationale Konkurrenz nun auch mit Spitzenleistungen in praktischer Astronomie aufmischen. Vermutlich wäre Gauß als Teamchef der Sternwarte selbst kaum teamfähig gewesen. Die teuren Instrumente darf nur er selbst handhaben. Aber als astronomischer
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