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Gauß: Eine Biographie (German Edition)

Gauß: Eine Biographie (German Edition)

Titel: Gauß: Eine Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hubert Mania
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einen praktikablen Weg finden, das Sonnenlicht einzufangen und auf seine Dreieckspunkte zu lenken. Noch vor den ersten praktischen Konstruktionsversuchen bestätigen fotometrische Berechnungen seine Vermutung, «dass selbst von ganz kleinen Planspiegeln reflektiertes Sonnenlicht … sich viel besser beobachten lässt als alle Türme und Signale, ja selbst besser als mehrere Argand’sche Lampen bei Nacht» [Gal: 70].
    Im Dezember 1820 vertraut er Olbers als Einzigem seine Idee eines «portativen Heliostats» an. Im Prinzip ist es ein Fernrohr mit einem integrierten System aus zwei beweglichen, senkrecht aufeinandersitzenden Planspiegeln von der Größe einer Visitenkarte. Der obere Spiegel wird auf die Sonne gerichtet. Mit dem unteren Spiegel lässt sich das Licht dann in die gewünschte Richtung lenken. Was einfach klingt, bedarf jedoch der anspruchsvollen Konstruktionsarbeit eines technisch versierten und handwerklichen Könners. Dafür engagiert Gauß Philipp Rumpff, den Feinmechaniker der Universität Göttingen. Acht Monate dauert der Entwicklungsprozess von der ersten Skizze bis zum fertigen Gerät. Den Prototyp nennt Gauß in einem Brief vom 1. Juli 1821 an Olbers erstmals «Heliotrop». Das bedeutet wörtlich Hinwendung zur Sonne. Den Begriff hat er einer Pflanzengattung mit 300 Arten entlehnt, deren Blüten der vermeintlichen Bewegung der Sonne am Himmel von Osten nach Westen folgen.
    Bei den ersten Versuchen auf der Terrasse der Sternwarte lenkt Gauß das Sonnenlicht nur über kurze Distanzen von 60 und 150 Metern. Das reflektierte Licht ist so stark, dass man es mit ungeschütztem Auge nur kurze Zeit ertragen kann. Bei einer Distanz von 2000 Metern hat ein Beobachter den Eindruck «vom dreifachen Glanze der Venus, wie sie, wenn sie am schönsten ist, bei Nacht erscheint». Ein neben Leutnant Hartmann stehender Arbeiter soll gar beim ersten Aufblitzen des Signals erschrocken Feuer geschrien haben. Diese ersten Versuche mit dem neuen Instrument Ende Juni sind beeindruckend, schon bald aber schlägt die Stunde der Wahrheit auf den Berggipfeln und über Entfernungen, die zuvor noch kein Vermesser an einem Stück bewältigt hat.
    Auf dem 40 Kilometer entfernten Höhenzug Hils bei Einbeck lässt sich vom Meridianzeichen der Sternwarte aus das Licht des Heliotrops mit bloßem Auge erkennen. Selbst bei diesiger Luft, wo im Fernrohr des Theodoliten weder die Kuppe des Hils noch der dort errichtete Signalturm erkennbar sind, «schien das Licht des Heliotrops wie ein prachtvoller Stern im blauen Himmel zu schweben» [GauIX: 464]. Mechanikus Rumpff und seine Angestellten arbeiten indessen unter Hochdruck an weiteren Exemplaren. So lange kann Gauß nicht warten. Er fiebert der großen Bewährungsprobe entgegen, dem Versuch, das Licht die 85 Kilometer lange Strecke vom Hohen Hagen zum Inselsberg im Thüringer Wald zu schicken, 20 Kilometer südwestlich von Gotha. Also montiert er kurzerhand das Spiegelsystem auf einen Sextanten und weiht seinen ehemaligen Schüler und jetzigen Leiter der Seeberg-Sternwarte, Professor Johann Franz Encke, in die Kunst des Scheinwerfens ein.
    Encke reist mit dem provisorischen Sonnenspiegel auf den Inselsberg, während Gauß mit dem Originalgerät auf den Hohen Hagen steigt. In luftiger Höhe richten sie ihre Instrumente aufeinander aus. «Häufig erschien [das heliotropische Licht] wie ein schönes Sternchen, während man in demselben Fernrohr den Umriss des Berges kaum oder gar nicht wahrnehmen konnte; der eine Beobachter befand sich zuweilen in Nebel und Regen, während das Heliotroplicht von drüben kräftig durchdrang» [GauIX: 465]. So geben Gauß und Encke sich gegenseitig die Zielpunkte zur Winkelmessung vor, die mit nie zuvor gekannter Präzision übereinstimmen. Ein überwältigender Erfolg. Gauß hat die Sonne selbst als freie Mitarbeiterin gewonnen. Selten zuvor ist Gauß so euphorisch gewesen. Vielleicht bei der Heureka-Notiz zur Konstruierbarkeit des Siebzehnecks vor 25 Jahren, womöglich in dem Augenblick, als er seine Arithmetischen Untersuchungen erstmals gebunden in den Händen hielt oder Johannas Jawort hörte. Aber dieser Apparat – das weiß er jetzt mit Sicherheit – wird die reale Welt durchdringen und die Vermessungstechnik dauerhaft verändern. Das grandiose Gefühl, das diesen Durchbruch begleitet, bricht sich Bahn in seiner Prognose, bei der Anwendung des Heliotrops setze nur noch die Erdkrümmung eine Grenze für die Größe der zu bildenden Dreiecke [GauIX:

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