Gebannt - Unter Fremdem Himmel
Ward gehörte zu den Kollegen ihrer Mutter – ein ruhiger Fünfjahrzehnter mit einem ernsten, kantigen Gesicht. Alleinerziehende Mütter waren in Reverie zwar keine Seltenheit, doch vor ein paar Jahren hatte Aria sich gefragt, ob er wohl ihr Vater sei. Ward und Lumina ähnelten einander, sie waren beide eher zurückhaltend und gingen ganz in ihrer Arbeit auf. Aber Lumina hatte auf ihre Frage nur erwidert : Wir beide haben doch uns, Aria. Mehr brauchen wir nicht.
»Vorsichtig«, warnte Ward nun. »Du hast eine nicht ganz verheilte Schnittwunde an der Augenbraue. Glücklicherweise ist das aber auch schon das Schlimmste. Ansonsten waren die Untersuchungsergebnisse einwandfrei. Keine Infektion. Keine Schäden an der Lunge. Ein erstaunliches Resultat, wenn man bedenkt, was du durchgemacht haben musst.«
Aria traute sich nicht, die Hand von ihrem Auge zu nehmen. Sie wusste, wie schrecklich sie aussehen musste. »Wo ist mein Smarteye? Ich komme nicht in die Welten rein. Ich hänge hier fest. Ohne eine Menschenseele.« Sie biss sich auf die Lippen, um nicht noch mehr unzusammenhängendes Zeug zu faseln.
»Dein Smarteye ist offenbar in der Ag-6-Kuppel verloren gegangen. Man sucht bereits danach. Ich habe dir aber ein neues bestellt. Es müsste in ein paar Stunden fertig sein. In der Zwischenzeit kann ich die Dosierung des Beruhigungsmittels erhöhen …«
»Nein«, erwiderte Aria rasch. »Keine Beruhigungsmittel.« Jetzt verstand sie auch, warum ihre Gedanken planlos durcheinanderwirbelten, so als wären wichtige Dinge neu geordnet worden oder ganz verschwunden. »Wo ist meine Mutter?«
»Lumina ist in Bliss. Die Verbindung ist seit einer Woche unterbrochen.«
Aria starrte ihn an. Ein Piepen des Monitors meldete die Spannungsspitze in ihrer Herzfrequenz. Wie hatte sie das vergessen können? Sie war doch gerade wegen Lumina in Ag 6 eingedrungen. Doch wieso war Lumina noch immer nicht erreichbar? Sie erinnerte sich daran, dass sie das Smarteye neu gestartet und dann die Datei »Singvogel« gesehen hatte.
»Das kann nicht sein«, widersprach sie. »Meine Mutter hat mir eine Nachricht geschickt.«
Ward runzelte die Stirn. »Wirklich? Und woher weißt du, dass die E-Mail von ihr kam?«
»Im Betreff stand ›Singvogel‹. Und so nennt mich nur Lumina.«
»Hast du die Nachricht denn gelesen?«
»Nein, dazu hatte ich keine Gelegenheit. Wo ist Paisley?«
Ward holte kurz Luft, bevor er antwortete. »Aria, es tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber Soren und du … ihr seid die einzigen Überlebenden. Ich weiß, dass Paisley und du einander sehr nahe standet.«
Unwillkürlich klammerte Aria sich an die Bettkante. »Was soll das heißen?«, hörte sie sich fragen. »Wollen Sie damit sagen, Paisley ist tot?« Das konnte einfach nicht sein: In Reverie starb niemand mit siebzehn. Alle wurden weit über hundert Jahre alt.
Der Monitor piepte. Dieses Mal klang der Ton lauter und durchdringend.
»Ihr habt die Sicherheitszone verlassen …«, erklärte Ward. »Die Smarteyes waren deaktiviert … Bis wir reagieren konnten …«
Aria hörte nur noch Piep-piep, piep-piep .
Ward verstummte und schaute zum Bildschirm, auf eine Grafik, die mit ansteigenden Linien und in die Höhe schnellenden Ziffern das beklemmende Gefühl in ihrer Brust optisch widerspiegelte.
»Es tut mir sehr leid, Aria«, sagte Ward.
Im nächsten Moment entknitterte und versteifte sich der Medi-Anzug, während sich der Stoff um ihre Gliedmaßen herum aufblähte. Kälte brandete in Arias Arm auf. Sie schaute an sich herab und sah, dass eine blaue Flüssigkeit sich durch den Schlauch schlängelte und in ihrem Anzug verschwand – in ihrer Vene. Ward hatte das Beruhigungsmittel über sein Smarteye angefordert!
Er trat nun näher. »Leg dich lieber wieder hin, sonst fällst du uns noch aus dem Bett.«
Aria wollte ihm sagen, er solle ihr fernbleiben, doch ihre Lippen wurden taub, und ihre Zunge verwandelte sich in einen seltsamen, schlaffen Lappen im Mund. Der Raum schien zur Seite wegzukippen, während die Frequenz der Pieptöne abrupt abnahm. Aria fiel zurück und landete mit einem dumpfen Schlag auf der Matratze.
Dr. Wards besorgte Miene erschien über ihrem Gesicht. »Es tut mir leid«, wiederholte er, »aber das ist im Moment das Beste für dich.« Dann ging er hinaus und zog die Tür hinter sich fest ins Schloss.
Aria versuchte sich zu bewegen. Ihre Glieder fühlten sich schwer und steif an, so als würde ein Magnet sie nach unten
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