Gebannt - Unter Fremdem Himmel
hatte.
Der Äther strömte in sanften, blauen Lichtbändern hoch über den dahinziehenden, grauen Wolken. Doch dieses Mal ließ sie sich nicht täuschen – sie wusste, wie furchterregend er sein konnte. Weiter unten erblickte sie das Tal, das sie während des Sturms durchquert hatten und das nun durch Licht und Schatten seltsam scheckig erschien.
»Ist das Dämmerlicht?«
»Abenddämmerung«, erwiderte er.
Sie sah ihn kurz an. War denn Dämmerlicht nicht das Gleiche wie Abenddämmerung? Und wie konnte er ein einziges Wort derart schleppend aussprechen? Aaa-bend-däm-me-rung . So als würde sich das Wort über den ganzen Tag erstrecken. »Warum hast du mich hierhergebracht? Wieso hast du mich nicht einfach dort draußen gelassen?«
»Ich brauche Informationen. Deine Leute haben jemanden von uns entführt.«
»Das ist lächerlich. Welche Verwendung sollten wir für einen Barbaren haben?«
»Offenbar mehr Verwendung als für dich.«
Aria stockte der Atem, als sie sich an die stumpfen Augen und das leere Lächeln von Konsul Hess erinnerte. Der Barbar hatte recht: Sie hatte ihren Zweck erfüllt. Sie hatte Sorens Schuld aufgeladen bekommen und war zum Sterben ausgesetzt worden. Hier draußen, mit diesem wilden Tier. »Du willst also in Reverie eindringen? Um diese Person zu retten? Warst du deshalb in jener Nacht in der Kuppel?«
»Ich werde da reinkommen. Das habe ich schon mal geschafft.«
Sie lachte. » Wir hatten das System deaktiviert. Und die Kuppel war beschädigt. Du hast Glück gehabt, Barbar. Die Wände, die Reverie schützen, sind drei Meter dick. Du wirst sie auf keinen Fall noch einmal überwinden können. Hast du überhaupt einen Plan? Willst du mit Pferdeäpfeln werfen? Oder vielleicht eine Steinschleuder benutzen? Bestimmt reicht ein einziger, gut gezielter Stein.«
Er wirbelte herum und kam auf sie zu. Aria wich hastig aus, wobei ihr das Herz bis zum Hals schlug. Doch er ging mit großen Schritten an ihr vorbei und verschwand in der Höhle. Wenig später kehrte er zurück und hielt mit leuchtenden Augen etwas in die Höhe. »Ist das hier besser als ein Pferdeapfel, Maulwurf?«
Aria starrte eine ganze Weile auf den gebogenen Gegenstand in seiner Hand. Sie hatte noch nie ein einzelnes, nicht mit einem Gesicht verbundenes Smarteye gesehen – und jetzt, im Besitz eines Barbaren, hätte sie es fast nicht wiedererkannt. »Ist das meines?«, fragte sie ungläubig.
Er nickte kurz. »Ich habe es an mich genommen. Nachdem der Kerl es dir abgerissen hatte.«
Erleichterung erfüllte sie. Sie konnte ihre Mutter in Bliss kontaktieren! Und falls die Aufnahme von Soren nicht gelöscht war, konnte sie beweisen, was er und sein Vater ihr angetan hatten. Sie schaute auf. »Das gehört dir nicht. Gib es sofort her.«
Der Barbar schüttelte den Kopf. »Erst, wenn du meine Fragen beantwortest.«
»Wenn ich das tue, gibst du es mir dann?«
»Das sagte ich bereits.«
Arias Herz hämmerte. Sie brauchte ihr Smarteye. Ihre Mutter würde sie retten. Binnen weniger Stunden konnte sie in einem Hovercraft auf dem Weg nach Bliss sitzen, und mit Luminas Hilfe würde sie Konsul Hess und Soren entlarven. Allerdings konnte sie kaum glauben, dass sie auch nur darüber nachdachte, einem Außenseiter dabei zu helfen, in Reverie hineinzugelangen. War das nicht Hochverrat? Hatte Hess sie nicht genau dessen beschuldigt? So etwas würde sie niemals tun, beschloss sie. Ganz gleich, welche Fragen der Barbar ihr zu dieser entführten Person stellen würde, sie würde ihm falsche Informationen geben. Sie würde ihm sagen, was er hören wollte. Die Wahrheit würde er sowieso nie erfahren.
»In Ordnung«, sagte sie.
Seine Hand schloss sich ruckartig um das Gerät, dann verschränkte er die Arme.
Entsetzt starrte Aria ihn an: Ihr Smarteye war in der Achselhöhle eines Neandertalers vergraben.
»Warum warst du da draußen in der Wüste?« Sein Mund verzog sich zu einem zufriedenen Lächeln.
Es war die gleiche Frage, der sie zuvor ausgewichen war. Nun aber würde sie ihm eine Antwort geben müssen. Sie schnaubte angewidert. »Nur zwei von uns haben überlebt. Einer war der Sohn eines Konsuls, eines sehr einflussreichen Mannes in unserer Biosphäre. Die andere war ich.«
Der Barbar schwieg und wartete.
Arias Blick glitt hinunter zu seiner Brust, wo sie die Spuren erkannte, die ihre Nägel auf seiner Haut hinterlassen hatten. Rasch schaute sie weg, angewidert von dem Gedanken, dass sie ihn berührt hatte. Hatte er eigentlich was
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