Gebannt - Unter Fremdem Himmel
Endlich redete er mit ihr. Ohne unterdrückte Wut. Ohne Hilfe von Luster. Und ohne Roars freundliches Geplänkel, das die Stimmung auflockerte. Doch statt ihn zum Bleiben aufzufordern, sagte sie das Erste, was ihr in den Sinn kam: »Wo ist Roar?«
Leicht verwundert schaute er sie an. »Unten. Ich kann ihn holen …«
»Nein … Ich wollte bloß wissen, ob er auch in Sicherheit ist.«
Aber es war zu spät. Perry stand bereits an der Tür. »Roar hat nicht einen einzigen Kratzer abbekommen.« Er zögerte einen Moment. »Ich geh dann mal … leg mich aufs Ohr und ruh mich aus«, sagte er schließlich und ging hinaus.
Aria starrte noch einen Moment auf die Stelle, wo er gestanden hatte. Wieso hatte er gezögert? Was hatte er noch sagen wollen?
Sie kuschelte sich wieder unter die warme Bettdecke. Sie trug zwar noch ihre schmutzige Kleidung, konnte jedoch an ihren Füßen den sanften Druck von Verbänden spüren. Und sie erinnerte sich vage, dass Slate sie gefragt hatte, warum sie humpelte.
Eine Lampe auf dem Nachttisch tauchte die cremefarbenen Wände in weiches Licht. Sie befand sich in einem Zimmer , umgeben von vier massiven Mauern. Und es war still um sie herum: Sie hörte weder den rauschenden Wind noch die Schellen der Krähenmänner noch das Geräusch ihrer eigenen Füße beim Laufen. Als sie aufschaute, sah sie eine Decke, die sich nicht bewegte. Absolut reglos. So sicher hatte sie sich nicht mehr gefühlt, seit sie das letzte Mal mit Lumina zusammengesessen hatte.
Das Bett war niedrig und schlicht, allerdings mit schwerem, luxuriösem Damast bezogen. An einer Wand hing ein Matisse, nur die einfache Zeichnung eines Baumes, doch die Linienführung war außergewöhnlich ausdrucksstark. Aria kniff die Augen leicht zusammen und betrachtete die Skizze: War das ein echter Matisse? Auf dem Boden lag ein Orientteppich, der den Raum mit Herbstfarben erfüllte. Wie und wo hatte Marron all diese Dinge zusammengetragen?
Dann spürte sie, wie ihre Lider erneut schwer wurden. Während sie einnickte, wünschte sie sich einen weiteren Traum mit Lumina. Einen schöneren als den letzten. Einen Traum, in dem sie die Lieblingsarie ihrer Mutter singen würde. Dann würde Lumina ihren Sitzplatz verlassen, auf die Bühne kommen und Aria fest in die Arme nehmen.
Und sie wären wieder vereint.
Einige Zeit später, nachdem sie erneut tief und fest geschlafen hatte, wickelte Aria die Verbände von den Füßen und humpelte in das angrenzende Bad, wo sie eine geschlagene Stunde duschte. Das heiße Wasser auf ihren müden Muskeln war eine derartige Wohltat, dass sie fast in Tränen ausgebrochen wäre. Ihre Füße befanden sich in einem erbärmlichen Zustand: zerschrammt, mit Blasen bedeckt, verschorft. Vorsichtig wusch sie die Wunden aus und umwickelte sie dann mit Handtüchern.
Als sie ins Schlafzimmer zurückkehrte, stellte sie überrascht fest, dass jemand ihr Bett gemacht hatte. Auf der Decke lag ein kleines Bündel gefalteter Kleider, dazu ein Paar weiche Seidenpantoffeln. Und oben auf dem Stapel thronte eine rote Rose. Aria nahm sie behutsam in die Hand und sog ihren Duft ein. Wunderschön. Zarter als der Duft von Rosen in den virtuellen Welten. Aber Rosen in den Welten ließen ihr Herz auch nicht schneller schlagen. Hatte Perry sich daran erinnert, dass sie nach ihrem Duft gefragt hatte? War das seine Antwort?
Die Kleidung war blütenweiß – ein Weiß, wie sie es seit ihrer Abreise aus Reverie nicht mehr gesehen hatte. Außerdem saß sie viel besser als die Tarnkleidung, die sie in der vergangenen Woche getragen hatte. Als Aria in die Hose schlüpfte, bemerkte sie, dass sich die Form ihrer Beine und Waden verändert hatte: Trotz der extrem mageren Essensrationen waren sie muskulöser geworden.
Als jemand an der Tür klopfte, rief sie »Herein«, worauf eine junge Frau in einem weißen Arztkittel das Zimmer betrat. Sie sah fabelhaft aus, dunkelhäutig und wohlproportioniert, mit hohen Wangenknochen und Mandelaugen. Ein langer Zopf lag über ihrer Schulter und schwang hin und her, als sie sich neben das Bett kniete, einen Stahlkoffer abstellte und dessen massive Schnallen aufspringen ließ.
»Ich heiße Rose«, sagte sie. »Ich bin Ärztin und möchte mir noch einmal deine Füße anschauen.«
Noch einmal . Also hatte Rose sich um sie gekümmert, während sie geschlafen hatte. Aria setzte sich auf das Bett und schaute zu, wie Rose die Handtücher abwickelte. Die medizinischen Gerätschaften in dem Stahlkoffer waren
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