Gebieterin der Finsternis
geschaffen aus Tod.
Als Nächstes zog sie das Anthame aus der Scheide und drückte die Spitze auf ihren linken Ringfinger. Der vertrauteSchmerz, der sie durchfuhr, half ihr, sich zu konzentrieren. Eine rote Blutperle erschien auf ihrer Haut. Sie legte das Messer wieder ab und drückte mehr Blut aus der winzigen Wunde, bis es wie eine rote Träne aussah.
Mit geneigtem Kopf murmelte sie einige kehlige Silben. Sie schnitten wie Glasscherben auf ihrer Zunge. Bis sie das Ende des Verses erreicht hatte, fühlte sich ihre Mundhöhle wund und faulig an. Ihr Gleichgewicht verlagerte sich zur dunklen Magieseite. Dann sprach sie Worte von Licht und Schönheit, die wohltuend wie Honigbalsam waren. Vitalenergie floss, die sie in das Golemherz lenkte.
Nun kam der schwierige Teil. Die zwei Zauber, die sie beschworen hatte, der eine hell, der andere dunkel, würden sich gegenseitig aufheben, wenn sie nicht gekonnt vermengt waren. Artemis dachte ans Weben, denn die Tätigkeit kam ihrem magischen Talent am nächsten, auch wenn der Verbindungszauber etwas völlig anderes als simples Weben war. Sie verwob keinen Faden zu Tuch, sondern Licht und Dunkelheit zu Leben und Tod.
Die gegensätzlichen Kräfte aus ihrem Blut und ihrer Seele kollidierten. Artemis teilte sie in gleich starke Fäden und wand sie paarweise zu einem magischen Netz.
Das Blätter-Moos-Bündel veränderte sich. Ein gewöhnlicher Mensch hätte es vielleicht nicht gesehen, aber für Artemis, die mit ihren Hexensinnen sah und fühlte, war die Veränderung deutlich. Die Erweckung des Golems hatte begonnen.
Licht pulsierte in dem blutbeschmierten Kiesel, das Moosgesicht verformte und glättete sich, bis es menschliche Züge angenommen hatte. Augen, Nase und Mund bildeten sich, Haar erschien – grün, aber dennoch menschengleich. DieZweiggliedmaßen bewegten sich, prüften ihre neugewonnene Dehnbarkeit.
Sobald der Golem sein Gleichgewicht gefunden hatte, wandte er das Gesicht seiner Schöpferin zu. Die Augen waren noch geschlossen. Nicht mehr lange. Artemis wappnete sich für den verhassten letzten Zauberteil: die Benennung des Golems. Sie bemühte sich um den richtigen Klang.
»Tott. Zeit zum Aufwachen.«
Die moosigen Augenlider hoben sich und enthüllten eine dunkel leuchtende Intelligenz. Gleichzeitig formten die grünen Lippen ein schiefes Lächeln. Der nun vollends lebendige Golem verneigte sich tief und drehte sich mit ausgebreiteten Armen einmal um die eigene Achse. Verwunderung und Dankbarkeit strahlten in seinem kleinen Gesicht, und seine Zweigfüßlein vollführten einen kurzen Tanz.
»Ich lebe!«, quäkte er grienend.
Artemis schluckte, denn sie hatte einen Kloß im Hals. »Ja, du lebst.«
»Ein wundervolles Gefühl.« Der Golem sah sie an und stellte den Kopf schräg. »Dann soll ich Tott sein? Männlich? Sehr gut.« Wieder verneigte er sich. »Tott zu Euren Diensten, Herrin. Wie kann ich Euch dienen?«
Sie brauchte es ihm bloß zu sagen, denn der einzige Zweck eines Golemlebens bestand letztlich darin, seinem Schöpfer zu dienen.
»Auf der anderen Seite des Baums ist ein Eisentor, sehr gut geschützt.«
»Gegen Lebens- oder gegen Todesmagie?«
»Beides.«
»Aha.« Zwei Silben, die jedoch eine unendliche Traurigkeit bargen – und Resignation.
Wie beklemmend, dachte Artemis. »Du musst mir das Tor öffnen. Auf der anderen Seite sind allerdings Menschen, und die dürfen nicht verletzt werden.«
Seinem ernsten Blick nach verstand der Golem, auch wenn seine Miene ansonsten gleich blieb. »Ich werde ein sehr kurzes Leben haben, nicht wahr, Herrin?«
»Es tut mir leid, Tott. Wenn ich dir mehr Zeit geben könnte … Aber … ich kann nicht. Ich muss so schnell wie möglich durch das Tor.«
»Euer Wunsch ist mir Befehl, Herrin. Anders will ich es nicht.«
»Ich wünschte … ich wünschte, es könnte anders sein.«
Er überlegte. »Soll ich sofort anfangen, Herrin?«
Artemis bejahte stumm.
Ohne sich noch einmal umzudrehen, trottete der Golem um den Baumstamm herum. Artemis sah ihm von hinter der Eiche nach, wie Tott über den Rasen zum Tor trippelte.
Er gab sich keinerlei Mühe, sich vor den Fans auf der anderen Seite zu verstecken, und prompt wurde er von einem Mädchen mit violett gesträhntem Haar entdeckt, das kreischend auf ihn zeigte. Ihre drei Freundinnen folgten ihrer Hand und starrten Tott an. Auch der Photograph kam herbeigeeilt und knipste wie verrückt los.
»Was ist das denn?«, fragte eines der Mädchen.
Das erste Mädchen
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