Gebissen
Gestalten, die hier unter der Erde lebten, sinnlich, frei, selbstbewusst, ganz anders als das sabbernde Kettending Jo und der kalte Abgrund in Menschenform an ihrer Seite.
Wie viele Menschen waren denn überhaupt menschlich? Wenn Lisa den Gedanken zuließ, dass das hier keine Menschen waren, obwohl sie so aussahen, woher sollte sie dann wissen, wie vielen echten Menschen sie auf der Straße täglich begegnete, und wie vielen falschen?
Die feuchte Erde unter Lisas nackten Füßen schien ganz leicht zu vibrieren, und das Vibrieren stach wie kleine Nadeln in ihre Sohlen. Sie hob die Beine auf die Bank, um den Kontakt zu unterbrechen.
Günni dagegen grub die Zehen möglichst tief in den Boden und lächelte. Jo heulte auf und warf sich noch wilder in die Kette, und der Junge am Pfeiler unterbrach seine Schmierereien und rührte sich nicht, stand einfach da und zitterte.
Lisa wollte heulen, aber sie konnte nicht, hatte keine Tränen in sich.
In diesem Moment kam Sandy zurück, endlich. Sie strahlte, und Lisa begann trocken zu schluchzen. Sandy war nackt und vollkommen mit dunkler Erde beschmiert, die an ihr klebte wie eine zweite, borkige Haut. In ihrem Gesicht fanden sich darüber hinaus Spuren von getrocknetem Blut, die Lippen schienen aufgeplatzt, Blut war bis aufs Kinn hinabgetropft, aber Sandy lächelte dennoch unentwegt. Sie kam in die Nische, nahm Lisas Gesicht in die kalten dreckigen Hände und küsste sie kurz und sanft auf die Lippen. Das hatte sie noch nie getan.
Lisa schmeckte Blut und Erde, und auch wenn sie den Geschmack ausspucken wollte, tat sie es nicht. Es war, als würde eine kühle Kraft in dem Kuss stecken, der ihren Wunsch zu weinen verdrängte. Das tat gut.
»Er ist einverstanden, auch wenn du nicht ganz allein hergefunden hast.«
Wieder fragte sich Lisa, wer dieser Er denn war, von dem Sandy dauernd sprach.
»Er weiß jetzt, an wem du dich rächen willst, und das ist gut. Er will dir helfen, deine Rache zu bekommen.«
Mechanisch nickte Lisa. Wieso war Sandy nackt und voller Erde und Blut? War dieser Er doch ein perverser Gangsterboss, der Herr eines Drogenrings, der Frauen schlammcatchen ließ, wenn er ihnen einen Wunsch erfüllen sollte? Hatte Sandy sich dabei die Lippen aufgeschlagen? Doch beim Kuss hatten ihre Lippen nicht verletzt gewirkt. War das etwa fremdes Blut? Es trocknete auf ihren Lippen, auf ihrem Kinn, und hier und da entdeckte Lisa weitere Spritzer. Und wer wusste schon, was die schwarze Erde noch alles verdeckte.
Das sind keine Menschen, dachte Lisa wieder, und so seltsam es war, es erschien ihr viel plausibler als die alberne Vorstellung von einem Gangsterboss mit einem Faible für Schlammcatchen. Auch dieser Er war kein Mensch, da war sie sicher.
»Du wirst eine von uns. Ist das nicht fantastisch?« Trotz dieser Begeisterung blieben Sandys Augen kalt.
»Aber wenn ich ...«
»Alles wird gut, mach dir keine Gedanken.« Sandy strich ihr durchs Haar und sah ihr in die Augen. »Irgendwann hättest du eh hergefunden. Ich weiß, was Alex dir angetan hat. Glaub mir, du wärst gekommen, und jetzt bist du eben früher am Ziel.«
»Bist du dir sicher?«, fragte Lisa und wusste nicht, was genau sie damit meinte.
»Aber ja. Und jetzt bereiten wir alles vor. In einer Stunde bist du eine von uns.«
»Gratuliere.« Günni legte Lisa die Hand auf die Schulter, und sie erstarrte. Auch wenn sich keine Kälte in ihr ausbreitete, hatte sie kurz das Gefühl, der Arm würde verdorren. Sie wagte nicht, die Hand abzuschütteln, und es schien ewig zu dauern, bis er sie endlich wieder wegnahm.
Jo raste.
30
«*
Vor dem Gefängnis zerrte Danielle Alex quer über die breite Rathenower Straße, sie rannten vor den grellen Scheinwerfern eines heranpreschenden Autos hinüber. Der Fahrer hupte, bremste aber nicht.
Alex winkte ihm mit dem Mittelfinger hinterher und riss sich von Danielle los. Er zeigte auf die zweispurige Alt-Moabit auf der anderen Seite der JVA: »Da geht’s zum Reichstag.«
Es war nah genug, um zu laufen, ein paar Minuten vielleicht, wenn man den direkten Weg nahm.
»Und da ist eine Tankstelle.«
»Tankstelle? Willst du jetzt ein Eis oder Bier kaufen oder was?«
»Unsinn. Wir brauchen Benzin. Oder womit willst du das Herz des Blutvaters abfackeln? Mit deinem Feuerzeug?«
Daran hatte er nicht gedacht, ebenso wenig wie an den Namen des Zivis. Er war zu durcheinander und verließ sich einfach auf Danielle. Ständig dachte er an Lisa und die drei Millionen, aber nicht
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