Gebissen
daran, wie sie jetzt vorgehen sollten. Warum nur hatte Danielle ihm diese verfluchte Zahl in den Kopf gesetzt? Sie lähmte ihn.
In der Tankstelle war nichts los. Hinter dem Tresen stand ein kleiner Mann um die fünfzig, der sich eine
große verspiegelte Sonnenbrille vorn ins blaue Poloshirt gehakt hatte. Das schwarzgraue Haar war sauber nach hinten gekämmt, auf den Wangen zeigten sich dunkle Bartschatten. Er starrte auf einen kleinen Fernseher, in dem ein actionreiches Nachtprogramm lief, bis er Danielle bemerkte. Dann starrte er sie an.
Sie kauften zwei große leere Kanister und füllten sie mit Benzin, legten noch ein Brecheisen auf die Theke - warum führte die Tankstelle so was eigentlich? -, ein paar Wasserflaschen, saugfähige Wischtücher, die sich gut mit Benzin tränken ließen, und ein paar Feuerzeuge. Dazu zwei leistungsstarke Taschenlampen und eine Handvoll Batterien. Dabei flirtete Danielle mit dem Angestellten, so dass ihm gar nicht auffiel, was er ihnen da für eine Mischung verkaufte. Er lächelte, als wäre es ein Päckchen Kaugummi, während er ihnen das Wechselgeld auf einen Zweihunderter herausgab, obwohl Danielle ihm noch keinen Schein in die Hand gedrückt, sondern es nur behauptet hatte. Schließlich sah er ihr kaugummikauend hinterher, ohne sich darüber zu wundern, mit welcher Leichtigkeit Danielle ihren 20-Liter-Kanister davontrug.
Sie liefen Alt-Moabit hinunter. Leichter Wind kam auf, und am Nachthimmel entdeckte Alex ein paar kleinere Wolken, von denen sich eine langsam vor den schmalen Mond schob. Noch immer hatte er sich nicht daran gewöhnt, wie gut er im Dunkeln sehen konnte; es kam ihm gar nicht vor, als wäre es Nacht. Dank des Koffeins war er nicht müde.
Neben Danielle war er in einen leichten Trab verfallen, das Benzin im Kanister in seiner Rechten schwappte hin und her, doch ihm kamen die zwanzig Kilo leicht wie nichts vor, wie ein Beutel mit zwei CDs, die er vom Einkauf nach Hause trug.
»Wie kommen wir unter den Reichstag? Hast du ’ne Idee?«, fragte Alex. »Wir können ja schlecht fragen, ob sie uns in den Keller lassen.«
»Irgendwo da muss doch der ungenutzte Tunnel der Kanzlerbahn verlaufen«, antwortete Danielle, als sie die breite Unterführung unter den Bahngleisen entlangeilten. »Zur Not verläuft ja überall die Kanalisation.«
»Kanalisation?« Alex starrte sie an und rümpfte die Nase. Er hatte das Gefühl, dass nicht nur seine Sehkraft geschärft war, sondern auch sein Geruchssinn.
In diesem Moment brach plötzlich ein Auto auf der entgegenkommenden Spur aus und bretterte direkt auf sie zu. Der Fahrer hatte die Augen geschlossen wie im Sekundenschlaf, die Gesichtszüge waren vor Angst verzerrt, der Mund stand offen, er schrie. Alex konnte den grellen, hasserfüllten Schrei dumpf durch die geschlossenen Scheiben hören. Wie auch den Schrei der Beifahrerin, deren Augen im wilden Schreck aufgerissen waren. Panisch griff sie dem Fahrer ins Lenkrad, zerrte wie irr daran, doch der Fahrer hielt es mit aller Kraft, verteidigte seinen Kurs direkt auf Alex und Danielle zu. Brüllend gab er sogar noch Gas.
»Malek!«, kreischte die Frau, sie war jung und hatte sich für diesen Abend hübsch gemacht, die Haare waren kunstvoll hochgesteckt. So viel erkannte Alex auf den ersten Blick, und dann war das Auto auch schon heran.
Er und Danielle stoben auseinander, wichen rechts und links zur Seite, Danielle beschleunigte weiter die Straße entlang, und er bremste ab, wich zurück. Zwischen ihnen prallte der silberne Wagen gegen die dunkle Wand der Unterführung.
Die Motorhaube wurde eingedrückt, und der Airbag auf der Fahrerseite reagierte, das weiße Kissen fing den Fahrer auf. Die Beifahrerin krachte durch die Windschutzscheibe, ihre Hände lösten sich mit einem Ruck vom Lenkrad, um das sie vergeblich gekämpft hatten, und sie schmetterte gegen die Mauer. Ihr Kopf schlug mit voller Wucht auf den Stein. Alex war sicher, über all den Lärm hinweg ein Knacken zu hören. Leblos rutschte sie von den Überresten der Kühlerhaube und kam völlig verrenkt vor Alex’ Füßen zu liegen. Blut floss aus den Schnittwunden und der geplatzten Stirn. Der Fahrer regte sich hinter dem weißen Ballon. Er war aus seinem Alptraum erwacht.
Alex starrte auf das Blut am Boden, die sich langsam ausbreitende Lache, und dachte an verschütteten Wein. Dachte daran, auf die Knie zu fallen und über den Asphalt zu lecken, das kostbare Blut nicht einfach verkommen zu lassen. Mit einem Mal
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