Gebissen
wirklich nach einer Sekte. »Warum wurden wir auserwählt?«
»Weil uns Leid angetan wurde.«
»Leid?« Einen Augenblick lang wusste Lisa nicht, auf was Sandy hinauswollte. Seit sie hier saß, bedeutete das, was sie draußen erlebt hatte, gar nichts mehr. Sie dachte draußen - wie eine Gefangene, wie die Insassin einer Nervenheilanstalt.
»Ja. Er ist für all jene da, denen etwas angetan wurde. Er gibt uns die Kraft zur verdienten Rache. Er macht uns zu ...« Sandy zögerte einen Moment und sah ihr tief in die Augen, dann fuhr sie fort: »Du musst deine Vorstellungen vergessen, die du von uns hast. Vieles stimmt einfach nicht, weil sich jeder Regisseur und Schriftsteller etwas anderes zu uns ausgedacht hat. Also lass deine Vorurteile stecken, wir sind weder untote Monster noch melancholische Latin Lover. Wir sind einfach Vampire.«
»Vampire?« Lisa flüsterte nur. Sie setzte gar nicht an, um zu widersprechen, sie rief nicht: So ein Blödsinn! Sie glaubte es sofort.
Vor wenigen Stunden hätte sie noch gelacht, doch hier unten lachte sie nicht, hier lachte niemand, nicht richtig, nicht von Herzen, nicht aus Freude, nicht aus Albernheit, nicht über irgendeinen Schwachsinn. Lisa glaubte ihr wegen dem, was sie gesehen und empfunden hatte, seit sie hier unten war. Sie glaubte ihr, weil sie sich bei jedem Einzelnen dort in der Halle vorstellen konnte, dass er Blut trank. Jeder Einzelne von ihnen machte ihr Angst.
»Wir sind nicht böse«, sagte Sandy. »Wir nehmen uns nur, was uns zusteht. Wir haben das Recht, uns zu rächen. Es gibt Gründe, warum wir so wurden, wie wir sind. Es will eben nicht jeder pc sein, wir lieben nun mal die Dunkelheit.«
Lisa nickte. Sie mochte die Nacht auch. Ebenso schwarze Klamotten. Aber darum ging es hier nicht. An der Wand gegenüber hechelte noch immer Jo in seiner Kette und tigerte auf und ab.
»So wie fanatische Vegetarier auf normalen Menschen herumhacken«, fuhr Sandy fort, »hacken diese auf uns herum, nur weil wir Blut trinken. Dabei wissen sie nicht, was ihnen entgeht. Weil sie zu schwach und zu feige sind, zu sehr an alten Moralvorstellungen festhalten, anstatt es auszuprobieren. Unser Durst macht uns stark, und wir sind es einfach leid, schwach zu sein. Unsere Gemeinschaft ist stark. Und egal, was die Leute sagen - weißt du, wie viele davon träumen, dass er sich erhebt? Nachts, wenn sie nicht an ihre Feigheit gefesselt sind, die sie Moral nennen. Dass einer wie er kommt und Berlin in eine neue Zeit führt? Er ist das wahre Berlin, das Berlin, das man gern versteckt vor Touristen und Staatsgästen. Er befreit. Er legt die wahre Natur des Menschen offen, er ist die in der Tiefe lauernde Wahrheit. Wir sind so, wie Menschen wirklich sein wollen. Wir sind das, wohin sie sich entwickeln, und das, was sie von ihrer ursprünglichen Natur vergessen haben, weil sie ein abstraktes Ding anbeten, das sie Zivilisation nennen. Als würde ein Löwe im Zoo seinen Käfig anbeten und ihn home, sweet home nennen!«
So richtig geordnet kamen Lisa diese Gedanken nicht vor, und sie war ganz sicher nicht der Meinung, dass sich der Mensch zu einem Bluttrinker entwickeln sollte. Sie könnte sich an Alex rächen, ohne sein Blut zu trinken, denn das war es doch, worauf Sandy hinauswollte. Sie sollte Rache nehmen an Alex.
Doch sie wollte ganz sicher kein Vampir werden, sie wollte hier raus. Weg, nur weg. Auch wenn sie nicht wusste, wie ihr die Flucht gelingen sollte. Es waren zu viele, und sie waren zu stark.
In einer Stunde, hatte Sandy vorhin gesagt, und diese Stunde war beinahe um.
»Dann mach dich mal bereit«, sagte Sandy, als hätte sie ihre Gedanken erraten. »Wenn du eine von uns bist, dann erkläre ich dir alles genauer. Dann wirst du es fühlen und viel leichter verstehen.«
»Und wenn ich nicht will?«, fragte Lisa ganz leise. Hoffnung, dass Sandy sie gehen lassen würde, hatte sie nicht.
»Psst. So was sagt man nicht.« Sandy schüttelte den Kopf und sah sie irritiert an. »Weißt du, wie sehr ich mich für dich eingesetzt habe? Vampir zu werden, ist ein großartiges Geschenk, das großartigste überhaupt. Hast du mir gar nicht zugehört?«
»Doch, habe ich ...«
»Na also. Dann weißt du ja, dass es um Evolution geht. Um Darwin im Zeitraffer, es braucht keine generationenlange Entwicklung, keine zufällige Mutation. Du wirst dich in einer einzigen Nacht weiterentwickeln, die nächste Stufe erklimmen, direkt an die Spitze der Nahrungskette. Genau darum geht es immer - in der
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