Gebissen
Alex ging ab und zu ins Theater, Lisa freute sich auf die kommende Leichtathletik-WM in Berlin. Sie mochte den Frühling, er den Herbst, Schwarztee stand gegen Kaffee, Urlaub im Süden gegen Nordsee bei Wind und in Berlin bleiben, Sesamstraße gegen Captain Future. Er war auf einem bayrischen Dorf aufgewachsen, sie in der Großstadt Düsseldorf. Immer schneller warfen sie sich Stichworte um die Ohren und amüsierten sich über die wachsende Liste an Unterschieden. Dabei flunkerte Alex ein wenig, eigentlich hatte er nichts gegen einen Urlaub in Griechenland, um die antiken Ruinen zu sehen, beharrte aber aus Freude an Gegensätzen auf Skandinavien.
»Wir haben ja echt nichts gemeinsam.« Lisa lachte. »Das gibt’s doch nicht.«
»Na ja, immerhin sind wir die einzigen beiden, die in die falsche Richtung schauen.«
»Das stimmt. Das verbindet ungemein.« Sie sah ihn erwartungsvoll an. Die Schwermut und das unruhige Flackern waren aus ihren Augen verschwunden, eine dünne Haarsträhne hing ihr quer über die Stirn. Die silbernen Ohrringe glitzerten in der Abendsonne.
»Du siehst wirklich fantastisch aus. Weißt du das?«, sagte er und rückte unauffällig einen winzigen Zentimeter auf sie zu. Sein Herz schlug schneller.
»Danke«, sagte sie leise, ihr Mund blieb leicht geöffnet. Jetzt musste er sie küssen, verdammt. Sei kein Trottel, versau es nicht! Tu ’s!
Hinter ihnen ging mit voller Lautstärke ein Ghettoblaster los, Lisa zuckte zusammen.
»Hey, du Idiot!«, schrie einer, und die Musik wurde runtergedreht. Trotzdem sah Lisa hinüber, und innerlich fluchend tat es auch Alex.
Die Brücke hatte sich inzwischen gefüllt, die Sonne stand groß und rot am Horizont, sie war schon halb versunken. Auch auf ihrer Brückenseite sahen Menschen dem Sonnenuntergang zu, und erst jetzt wurde Alex bewusst, wie viele wirklich gekommen waren. Kleine Gruppen und Pärchen, viele hatten Getränke dabei, einer sogar eine Decke, die er trotz der warmen Temperaturen unter seinen Hintern und den seiner Freundin geklemmt hatte. Ein Zug kam auf sie zu, fuhr unter ihnen hindurch und irgendwohin, Alex hatte nicht nach der Aufschrift über der Frontscheibe der Lok gesehen.
Seit sie hier saßen, hatte er nicht einmal den Drang verspürt, in den Tod zu springen, hatte nicht einmal lose daran gedacht.
Als er jetzt die Räder über die Gleise unter ihnen ruckeln hörte, begriff er, warum Lisa früher zum Bahnhof gefahren war. Zusammen mit ihr könnte er jetzt Berlin und alles hinter sich lassen, wenigstens für diesen Augenblick, einen Abend oder eine Woche lang. Er betrachtete ihr Gesicht, während sie zur Sonne sah. Dann nahm er einfach ihre Hand und streichelte sie.
Sie wandte sich ihm zu und fragte mit einem schelmischen Grinsen: »Wo waren wir eben?«
»Ich hatte dir gesagt, dass du umwerfend aussiehst«, sagte er und küsste sie, sanft und lange.
Sie schmiegte sich sofort an ihn, ihre Zunge tastete über seine Lippen, ihre schmeckten zugleich süß und herb nach dem schweren roten Lippenstift.
Langsam lösten sie sich wieder voneinander, die Gesichter verharrten nur eine Handbreit voneinander entfernt, die Blicke ineinander verhakt. Ihre grünen Augen funkelten hell.
Er hatte sie nicht gebissen, hatte nicht einen Augenblick lang daran gedacht. Zu der Euphorie und dem Glück, die durch seinen Körper tobten, gesellte sich Erleichterung. Eine diffuse Anspannung fiel von ihm ab, so plötzlich, dass er einfach loslachte.
Ihre Augen wanderten über sein Gesicht, ihre Finger vergruben sich in seinem Haar. »Du siehst aber auch nicht übel aus.«
»Schade. Ich mochte immer die Geschichte von der Schönen und der Bestie.«
»Idiot«, sagte sie und küsste ihn. Danach erhob sie sich und fragte: »Wollen wir gehen?«
»Wohin?«
»Zu dir? Ich wohne nicht allein, und Männerbesuch will ich Sandy trotz allem möglichst nicht aufs Auge drücken.«
»Dann zu mir.« Er nahm ihre Hand fester und führte sie die Brücke hinab. Dabei strich er mit dem Daumen immer wieder über ihren Handrücken.
Als sie seine Wohnung erreichten, war die Welt für ihn noch immer taghell.
13
Ihr Arsch war einfach zu fett. Sandy stand vor dem großen Spiegel im Flur, drehte sich hin und her und musterte sich missmutig. Bei der verdammten Hüfthose quollen die Rettungsringe auch noch deutlich sichtbar über den Bund. Nun gut, Rettungsringchen, aber trotzdem. Mit blau lackierten Fingern packte Sandy ihre Haut und schüttelte sie - das waren eindeutig keine
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