Gebissen
zwei Handbreit offen. Das Gras auf dem schmalen Streifen hinter dem Zaun wucherte kniehoch, ungeschnittene Büsche verstellten den Blick auf den hinteren Teil des verlassenen Firmenparkplatzes. Das Gelände schien sich ein gutes Stück nach hinten zu erstrecken, keine Frau mit Verstand würde es um diese Zeit allein betreten.
Sandy legte die Hand auf das Tor. Das Eisen war kalt, Rostsplitter lösten sich unter ihrem Griff.
Was tat sie da?
Sie hatte das Gefühl, dass irgendwer sie gerufen hatte. Das war natürlich Unsinn, trotzdem hörte sie Geräusche von dort.
Ganz leise, nur ein Fetzen im Wind, und doch erkennbar ein fernes Stöhnen. Lustvoll.
Gänsehaut überlief sie.
Langsam schob sie das Tor ein Stück weiter auf. Trotz Rost bewegte es sich lautlos.
Verdammt, geh weiter, hör nicht hin und lauf weg. Renn, dachte sie, doch sie betrat das Gelände mit einem Kribbeln im Bauch. Auch unter den Pflastersteinen der Einfahrt konnte sie das Zittern spüren. Hinter sich schloss sie das Tor, es hatte nur für sie offen gestanden.
Langsam folgte sie dem Stöhnen. Dafür hatte sie die Wohnung verlassen, nicht, um sich von achtzehnjährigen Pickelfressen angraben zu lassen. Die Stadt selbst hatte sie hierhergeführt. Das Vibrieren unter ihren Fußsohlen war stark.
Dreh um, forderte eine leise Stimme in ihr, doch sie zuckte nur mit den Mundwinkeln und folgte dem Stöhnen zwischen zwei lange Lagerschuppen. Spärliches Mondlicht fiel auf die schmutzig bläulichen Wellblechdächer, bis in die halb zugewachsene Gasse zwischen den Hallen reichte es nicht herab.
Das Stöhnen hielt an. Es klang seltsam, als hätte jemand beim Suppeschlürfen einen Orgasmus. Oder beim Blasen.
Sie stieg zwischen die Schuppen, hielt mit den Fingern der rechten Hand lose Kontakt zur Wand, weil es dunkel war und sie nicht stolpern wollte. Der Boden war trocken und festgetreten, hier und da ragten Wurzeln aus der Erde. Sie trat auf Scherben und schnitt sich an einem scharfkantigen Blech, aber sie schrie nicht. Sie spürte Blut fließen, aber darum konnte sie sich nachher kümmern, das war nicht schlimm. Im Gegenteil, es war richtig.
Was?
Als sie aus der kurzen Gasse trat, sah sie an der Rückwand des nächsten Schuppens zwei ineinanderverschlungene Männer. Sie waren nur wenige Schritte von ihr entfernt. Der, der mit dem Rücken zu ihr stand, breitbeinig, war drahtig und hatte kurze schwarze Locken. Er trug eine schwarze Hose und ein ebenso schwarzes Hemd, presste den anderen gegen die Wand und küsste ihn auf den Hals oder die Schulter; in der Leidenschaft musste er ihm das T-Shirt zerrissen haben. Der andere hatte die Augen geschlossen und den Mund geöffnet, sein Gesicht war von Hingabe verzerrt.
Einen Moment lang wollte Sandy nichts sehnlicher, als auch so genommen zu werden. Sie zitterte vor Erregung, gaffte aus dem Schatten hinüber und fasste sich unbewusst zwischen die Beine. Doch der Jeansstoff war so dick, dass sie den Druck ihrer viel zu bedächtigen Finger kaum spürte.
Dann bemerkte sie, dass sich das Gesicht des Mannes nicht bewegte. Bleich lag es im Mondlicht, das Kinn bebte kein bisschen vor Lust, und die Augen blieben geschlossen. Die Arme hingen schlaff an seinem Körper herab. Als der Kopf von der Schulter des anderen getroffen wurde, rollte er einfach zur Seite.
Sandy erstarrte, blieb völlig ruhig stehen und unterdrückte einen Schrei.
Langsam löste sich der Kopf des Schwarzhaarigen vom Hals des anderen. Er wandte sich halb um, sog die Luft tief ein und wischte sich dann mit dem Handrücken über den Mund.
Renn weg! Duck dich in den Schatten!, drängte eine innere Stimme, noch hat er dich nicht entdeckt, aber Sandy blieb einfach stehen.
Der Mann drehte sich ganz um und hielt den Reglosen mit der Linken im Nacken fest, ließ ihn langsam Richtung Boden gleiten, ohne loszulassen. Etwas tropfte von dessen Hals, genau konnte Sandy es nicht erkennen, da der Schatten des Schwarzhaarigen darauf fiel.
Sein Gesicht war schmal und rasiert, die Nase klein und breit, die großen Augen leuchteten trotz der Dunkelheit wie Eis in der Wintersonne, in das ein schwarzes rundes Loch geschlagen war.
Sandy zitterte. Der Mann auf dem Boden war tot.
Tot!
Doch sie fühlte weder Mitleid noch Angst, starrte nur weiter neugierig den Mann mit den kalten Augen an. Er war schmal und nicht einmal besonders groß, eins achtzig, vielleicht eins fünfundachtzig, und doch wirkte er außergewöhnlich stark. Ihn umgab eine Aura, die sie noch nie
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