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Gebissen

Gebissen

Titel: Gebissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Koch
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zuvor gespürt hatte. Alphatier, dachte sie erst, doch dann: Nein, es ist anders. Faszinierend und mächtig, das waren die richtigen Worte.
    Warum schrie sie nicht? Warum machte sie sich nicht vor Angst in die Hose? Warum lief sie nicht schon längst die Straße hinunter? Dorthin, wo lebende Menschen waren und Licht. Der Typ war ein Psychopath! In seiner Hand baumelte die Leiche wie eine Reisetasche.
    Lauf!
    »Bist du die Neue?« Er lächelte und machte keine Anstalten, ihr etwas anzutun.
    Sie atmete schneller.
    Weg, lauf weg!, echote es in ihrem Kopf, aber sie blieb schweigend stehen und sah ihn nur an. Langsam nahm sie die Hand aus dem Schritt. Er würde sie nicht töten, das wusste sie.
    Und woher, du dumme Pute? Woher willst du das wissen?, schrie es in ihrem Kopf, aber auf diese Stimme wollte sie nicht mehr hören. Sie spürte einfach, dass sie hierbleiben musste. Die Erde unter ihren Füßen pulsierte.
    »Bist du stumm?«
    »Nein«, hauchte sie. Eigentlich hatte es laut und fest klingen sollen, doch ihr Mund war trocken wie der eines verliebten, getadelten Schulmädchens. Beinahe hätte sie ein Sir hinzugefügt, er strahlte mehr Stärke und Macht aus als jeder Träger in einer Uniform, den sie bislang gesehen hatte. Und sie stand auf Uniformen.
    »Heißt das jetzt, dass du nicht stumm bist oder nicht die Neue?«
    »Ich ... ich bin nicht stumm.« Sie räusperte sich, ihre Stimme klang noch immer dünn.
    »Und warum bist du hier?« Ohne sie aus den Augen zu lassen, schüttelte er den toten Mann in seiner Linken hin und her. Es wirkte, als koste ihn das nicht die geringste Anstrengung. Als dessen Hals kurz ins Mondlicht tauchte, sah sie, dass er an der Seite aufgerissen war. Das, was zu Boden tropfte, war Blut.
    Blut, schrie es in ihrem Kopf, aber der Schrei war ganz fern. Natürlich Blut, was hätte es auch sonst sein sollen? Der Mann war tot. Langsam ging ihr diese Stimme auf den Geist, sie wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben. Es war die Stimme ihrer Vergangenheit.
    Und was bitte soll das heißen ?
    »Ich habe dich stöhnen gehört, und ...«
    »Dann bist du also wirklich die Neue. Hilf mir mal, den Kerl umzudrehen.«
    Vorsichtig stakste Sandy hinüber, die Beine wollten ihr nur widerstrebend gehorchen. Es war nicht richtig, was sie hier tat, aber sie musste, sie musste die Vergangenheit hinter sich lassen, über ihren Schatten springen, wie auch immer man es ausdrücken wollte. Die Nacht hatte sie hierhergeführt, das war kein Zufall.
    Die Nacht? Schnappst du jetzt völlig über?, fragte die Stimme in ihr, aber sie wurde immer leiser. Sandy würde diesem Mann nichts abschlagen. Es war ihre Bestimmung, hier zu sein, sie konnte es in sich fühlen, es war richtig. Ja, doch, es war richtig. Hier war etwas, das die Leere in ihr ausfüllen konnte, etwas, das ihr Rache verschaffen konnte. Macht und Respekt.
    »Hast du mich gerufen?«, fragte sie, doch der Schwarzhaarige stellte den Toten einfach auf den Kopf, lehnte ihn gegen den Schuppen und wies sie an, ihn an den Füßen festzuhalten.
    Sie hatte noch nie einen Leichnam berührt und versuchte, nur seine Hose zu erwischen, nicht die blanke Haut. Das rechte Bein war feucht, als hätte er sich eingenässt.
    Der Schwarzhaarige kniete sich nieder und presste das Blut des Toten heraus, doch er beugte sich nicht vor, um es zu trinken. Sandy war sicher, dass er vorhin Blut getrunken hatte, dass er geschluckt hatte, nicht nur diesen Hals aufgerissen.
    »Nein«, sagte er.
    »Ähm, bitte?«
    »Nein, ich habe dich nicht gerufen. Ich soll dich nur abholen.«
    »Abholen?«
    »Ja.« Lässig und ohne Mühe schulterte er den blutleeren Toten und stapfte weiter in das verlassene Firmengelände hinein. Wie viel Kraft er hat, dachte sie. »Allein würdest du den Weg nicht finden, nicht einmal, wenn du seine Stimme hörst.«
    »Seine Stimme?« Sandy folgte ihm. Sie konnte sich nicht erinnern, eine Stimme gehört zu haben - außer ihrer eigenen. Doch sie war hier, hatte hergefunden, ohne jemals zuvor hier gewesen zu sein. Die Straße hatte sie geleitet.
    »Ja. Du kannst echt stolz darauf sein, auserwählt worden zu sein.«
    Auserwählt. Das klang gut. Es klang, als würde wenigstens hier irgendwer etwas auf sie geben. Lächelnd folgte ihm Sandy in die Dunkelheit, alle Schreie in ihrem Kopf waren verstummt.

14
    Keuchend ließ sich Alex neben Lisa auf die Matratze fallen und schloss für zwei Sekunden die Augen. Als er sie wieder aufschlug und Lisa das Gesicht zuwandte, lächelte

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