Gebissen
immer, es warf den Kopf hin und her.
»Nein!«, schrie Simone.
Franz hielt seine Füße möglichst weit von dem geifernden Maul entfernt und umklammerte die Heugabel mit aller Kraft, während Jochen nach vorne raste und eine zweite holte, um dem Vieh auch diese in die Brust zu rammen.
Alex röchelte, aber er konnte nicht sprechen. Ihm war übel.
Das Vieh wollte einfach nicht sterben, trotz der eisernen Zinken, die seinen Körper durchbohrten. Alex konnte nicht erkennen, ob es blutete. Es musste doch bluten! Aber es schrie nicht vor Schmerz, sondern fauchte nur weiter.
Die anderen Jungs wirkten ratlos und fluchten wieder.
Simone kreischte: »Kalle bringt mich um! Kalle bringt mich um!«
»Halt’s Maul!«, brüllte Franz.
»Ihr habt seine Kreatur kaputt gemacht! Ihr wart’s! Aber er gibt mir die Schuld! Immer gibt er mir die Schuld! Kalle bringt mich um!« Ihre Stimme überschlug sich, und Alex sah, dass sie weinte.
»Das Vieh ist nicht kaputt! Es geht nicht kaputt!« Franz rüttelte an seiner Heugabel, und Jochen sagte auf einmal:
»Lasst uns die Scheune abfackeln.«
»Du immer mit deinem Scheißfeuer!«
»Ich mein’s ernst! Wir brennen alles nieder, dann weiß Kalle nicht, dass irgendwer sein Vieh gefunden hat. Zumindest glaubt er nicht, dass Simone das Feuer gelegt hat, niemand wird das glauben.«
»Meinst du?«, schniefte sie.
»Ja. Die Scheune gehört deinen Eltern.« Jochen nickte. »Und das verdammte Vieh stirbt auch. Das ist doch nicht normal, dass das noch lebt!«
Alex wollte irgendwas sagen, aber er wusste nicht, was. Er wollte protestieren, aber er wusste nicht, warum.
Franz und Jochen drückten die Heugabeln so fest in den Boden, wie sie konnten. Das Vieh krallte sich in die Erde, als wollte es sich hineinwühlen und so den Zinken entkommen. Es stierte zu Alex herüber, doch er konnte sich noch immer kaum bewegen. Mühsam presste er die Rechte auf die Wunde, damit er nicht noch mehr Blut verlor, aber sie war größer als seine Handfläche. Das Blut lief und lief.
Während Franz die Kreatur weiter gegen den Boden presste, bedeckte Jochen sie mit Heu. Dann zerrte er die Saukiste aus trockenem Holz herbei und setzte sie auf die strampelnden Beine der Kreatur. Darüber warf er noch mehr Heu.
»Hilf Alex auf«, rief Franz Simone zu. »Und dann verschwindet ihr!«
Von Simone gestützt, kam er mühsam auf die Beine. Sie traute sich nicht, seinen verwundeten Arm anzufassen, und fragte immer wieder, ob es wehtat.
»Nein«, knirschte er. Ihm schwindelte, die Wunde pochte inzwischen dumpf. Langsam führte sie ihn in
den schmalen Durchgang zwischen Heu und Scheunenwand. Er warf einen Blick zurück und sah, wie Jochen das Heu auf dem Vieh anzündete. Rasend schnell fraßen sich die Flammen voran, züngelten um die Saukiste und die Kreatur.
Jetzt erst ließ Franz die Heugabeln los, die noch immer aufrecht in der Erde steckten.
Die Kreatur schrie. Ihr Gellen hallte in Alex’ Ohren, ein Zittern durchlief seinen Körper, mehr Blut floss aus der Wunde, und er glaubte durch die Schuhsohlen zu spüren, wie der Boden vibrierte. Er ließ sich von Simone zur Scheunentür zerren.
Die Schreie der Kreatur hielten an, und doch meinte er, das Prasseln des Feuers zu vernehmen. Es wurde warm, alles war voller Rauch. Simone stieß die Tür auf, frische Luft strömte ihnen entgegen. Sie fachte die Flammen an.
»Raus!«, hörte Alex Franz rufen.
Die Schreie der Kreatur wurden leiser, verklangen zu einem Röcheln und erstarben dann ganz.
Jochen stürzte ins Freie, direkt gefolgt von Franz. Ihre Gesichter waren rußverschmiert, die Haare angesengt.
Alex wankte, aber langsam verschwand die Taubheit aus seinen Beinen, während Simone leise neben ihm schluchzte.
Vorsichtig löste er die Hand von der Wunde und riss sie so wieder auf. Doch sie blutete nicht mehr so stark, wie er befürchtet hatte. Trotzdem sah sie furchtbar aus, er war sicher, an einer Stelle den blanken Knochen zu sehen.
Franz zog sich das T-Shirt über den Kopf und wickelte es um den Arm. »Geht’s?«
»Ja.« Alex zog Rotz hoch, und während sich die Flammen durch das Dach der Scheune fraßen, stapften sie in den Wald. Niemand sollte sie hier sehen, wenn die brennende Scheune bemerkt wurde. Tief drinnen setzten sie sich unter eine alte Buche und warteten auf die Sirene der freiwilligen Feuerwehr.
1
Berlin, Mai 2009
»Und? Hast du ein nettes Mädchen kennengelernt?«, fragte seine Mutter wie immer, und wie immer schaffte sie es, zugleich
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