Geboren im KZ: Sieben Mütter, sieben Kinder und das Wunder von Kaufering I (German Edition)
den entsetzlichen Durst, der sie seit vier Tagen quält, nicht gelöscht.
Eva kommt in eine Baracke, in der es gar keine Pritschen gibt. Nur wenige finden auf dem Boden einen Platz zum Liegen, die meisten können nur sitzen. Am Abend haben die Frauen einige Decken bekommen, doch die Nächte in Polen sind sehr kalt und die Decken dünn. Eine der Frauen lehnt sich mit ihrem Rücken fest an die Wand und streckt ihre Beine aus, eine andere setzt sich dazwischen und stützt ihren Oberkörper an der hinteren ab. In der engen Kette von Körpern, die sie so bilden, ist es zumindest warm. So verbringen Eva und Ida die erste Nacht. Am nächsten Morgen, es ist noch ganz finster, wecken sie laute, barsche Rufe. Die Blockälteste geht mit der Peitsche umher und jagt die verängstigten Frauen hinaus in die frostige Kälte. Der zweite Tag im Lager beginnt mit einem Zählappell. Eva ist müde. Sie friert und muss regungslos stehen, bis alle gezählt sind. Es dauert ewig. Täglich zweimal müssen die Frauen zum Appell antreten, im Regen, in Kälte oder unter glühender Sonne stehen Eva und Miriam stundenlang in der Reihe. Zum Frühstück gibt es nur eine Flüssigkeit, die zwar Kaffee genannt wird, mit diesem jedoch nur die Farbe gemeinsam hat. Die immer fröhliche und bei allen beliebte Šari, eine Schneiderin aus Dunajská Streda, versucht in den ersten Tagen, ihre Freundinnen mit kurzen Reimen aufzuheitern. Auch zu der ekelhaften morgendlichen Brühe fällt ihr ein Vers ein: «Bringt mir den Trank, der kleine Schwarze macht uns schlank.» Das Stück Brot am Abend und die wässrige Suppe zu Mittag stillen den peinigenden Hunger nicht. Die Frauen müssen noch nicht zur Arbeit ausrücken. In den ersten beiden Tagen treibt sich Eva wie viele andere vor der Baracke herum und hofft, jemanden zu finden, der ihr über das Schicksal von Géza oder ihrer Eltern Auskunft geben könnte. Sind sie auch hier? Oder wo sonst kann Géza jetzt sein? Muss er auch hungern? Nach drei, vier Tagen hat sie keine Kraft mehr zum Gehen und kauert hinter der Baracke auf dem Boden. Die Tage bestehen aus Hunger und Warten: vom Zählappell bis zur Suppenausgabe, von der Suppenausgabe bis zur Brotausgabe. Die Stunden ziehen sich endlos. Mehr noch als um ihr Kind kreisen Evas Gedanken jetzt um Essen. Immer wieder werden neue Frauen aus ungarischen Transporten ins Lager C gebracht. Wenn jemand ein bekanntes Gesicht entdeckt, durchbrechen freudige Ausrufe und heftige Umarmungen die lastende Stille, dann versinken wieder alle in Schweigen. Eva und Ida erfahren nichts über ihre Eltern oder Géza. Auch Miriam hofft kaum mehr auf ein Wiedersehen mit ihrer Mutter und Schwester. Sie geht zu der Blockältesten, die kennt sich ja aus. Doch die macht nur eine ungeduldige Handbewegung zum Himmel hoch. «Siehst du nicht den Rauch dort oben? Das sind deine Eltern.» Dann wendet sie sich unwirsch ab und geht. Miriam schaut ihr fassungslos nach.
Jeden Morgen wählt die Blockälteste fünf Frauen aus, die die Leichen derjenigen, die über Nacht im Lagerrevier starben, auf einer Schubkarre zum Krematorium bringen müssen. Dort müssen sie die Toten auf den Boden legen und sofort wieder zurückgehen. Als Miriam an der Reihe ist, versucht sie, nicht zu viel über diese schreckliche Arbeit nachzudenken. «Ich habe es wie ein Roboter erledigt.» Am schlimmsten ist ohnehin der Hunger, der all ihre Gedanken beherrscht. Mit den Tagen wird sie apathisch und verliert jede Kraft. «Wir konnten an nichts anderes als ans Essen denken. Alles andere war unwichtig. Was würdest du heute kochen, fragten wir uns gegenseitig und erzählten uns von unseren Lieblingsgerichten.» Nur wenn es regnet oder bei «Blocksperre» dürfen die Frauen tagsüber in der Baracke bleiben. In ihrer feuchten Kleidung liegen sie auf ihren Pritschen, apathisch, hungrig und durstig. Nirgendwohin kann Miriam sich zurückziehen, um einmal allein für sich zu sein, nicht draußen, nicht in der überfüllten Baracke mit 700 Frauen. Auch auf der Latrine nicht. Eine lange Reihe Frauen wartet schon darauf, in die stinkende, riesige Baracke zu gelangen. Mitten durch die Baracke zieht sich eine Holzkonstruktion mit einer doppelten Reihe Löcher über tiefen Gruben. Anfangs hat Miriam Angst, in das finstere Loch zu fallen, aber mit der Zeit lernt sie wie die anderen, auf der schmalen Kante das Gleichgewicht zu halten. Es gibt so gut wie kein Waschwasser. Mit nackten Füßen in klobigen Holzpantoffeln können die Frauen nur
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