Geboren im KZ: Sieben Mütter, sieben Kinder und das Wunder von Kaufering I (German Edition)
standen dort und zeigten mit den Fingern auf ältere Frauen, deren Körper nicht mehr straff waren, machten Witze über ihre Bäuche und hängenden Brüste. Schau dir die da an, und die da!» In der Masse nackter Körper mit kahl geschorenen Köpfen sehen alle gleich aus. Und dann passiert es. Miriam kann ihren Augen nicht trauen, sie muss sich täuschen. «Hilda! Ernuschka!», hört sie sich aus vollem Hals rufen. Zwei junge Frauen, die noch für die Rasur anstehen, drehen sich überrascht um. Diese Stimme kennen sie, das ist doch Miriam. Trotz der SS-Wachen umarmen sie sich rasch. Hilda ist Miriams Cousine, ihre beste Freundin, und Ernuschka aus Wien gehört auch zur Familie, ihre ältere Schwester hat einen von Miriams Brüdern geheiratet. 1938 kam das damals elfjährige Mädchen in das Haus von Miriams Eltern. Sie nahmen das Kind bei sich auf, nachdem die Juden in Wien immer mehr bedroht waren. Die kleine Erna war mithilfe ihres Schwagers – Miriams Bruder – illegal über die Grenze in das damals noch sichere Komárno geschmuggelt worden. Der Transport aus Komárno, erfährt Miriam, ist an demselben Tag angekommen wie ihrer aus Miskolc. Auch ihre Mutter Laura und die Schwester Lilly mit ihren zwei Kindern sind hier, erzählen ihr die beiden später in der Baracke. Sie haben zusammen die schreckliche Fahrt in einem Waggon überstanden, doch nach der Ankunft trennte man sie voneinander. Laura Schwarcz, ihre Tochter Lilly und ihre Enkelkinder gingen mit den Alten und Kranken. Wohin, wissen Hilda und Erna nicht. Vor Freude ist Miriam außer sich. Ihre Mutter ist hier, sie werden sich bestimmt bald finden. Jetzt ist aber am wichtigsten, dass Hilda und Erna bei ihr bleiben. Sie darf sie in diesem riesigen Irrenhaus nicht verlieren. Nach der Rasur beginnt Hilda plötzlich zu kichern. Was ist mit ihr los? Miriam und Erna schauen sie besorgt an, dann fangen sie selbst zu lachen an. Für einen kurzen Augenblick löst sich die Anspannung der letzten Tage auf. «Wir waren wie verrückt. Wir sahen uns in den Augen der anderen wie im Spiegel und lachten über uns selbst, über unsere kahl geschorenen Köpfe, die uns wie Affen aussehen ließen.» Nackt und geschoren laufen die Frauen in den Duschraum. Unter den Brausen können sie endlich ihren quälenden Durst löschen. Miriam biegt den Kopf zurück und versucht mit weit geöffnetem Mund die Wasserstrahlen einzufangen. Aber nur ein paar Sekunden bleiben. «Schnell, schnell!» Die SS-Männer brüllen Befehle, schwingen Peitschen und schlagen auf die nackten Menschen ein. Tropfnass muss sich jede Frau ein graues Häftlingskleid und ein paar Holzpantinen von einem großen Haufen nehmen, egal, ob sie passen oder nicht. Unterwäsche gibt es nicht. Wieder werden Fünferreihen gebildet. Miriam, Hilda und Erna marschieren an einer langen Reihe von Baracken vorbei. Die Menschen hinter dem Stacheldraht starren sie stumm und mit leerem Blick an. Alle haben rasierte Köpfe und tragen unförmige, graue Kleidung. Wie Schatten. Miriam drängt sich an die Seite von Hilda und Erna. Wo sind wir? Wer sind diese Leute?
Für die weiblichen jüdischen Deportierten aus Ungarn, die für die Zwangsarbeit ausgewählt wurden und deshalb die erste Selektion überlebten, sind in Birkenau die Lagerabschnitte B II C und B III vorgesehen. Sie dienen als sogenanntes Depotlager, eine Art Vorratskammer von Arbeitssklavinnen, über deren weitere Verwendung die SS-Lagerleitung noch entscheiden will. Viele von ihnen warten hier schon wochenlang. Auch Miriam ist jetzt ein «Depot»-Häftling. Das Lager C ließ die SS in Erwartung der ungarischen Transporte erst Ende Mai 1944 errichten. Die meisten Baracken sind nur halb fertig. Je fünf Frauen liegen auf einer der Holzpritschen, die in drei Etagen in der überfüllten Baracke aufgestellt wurden. Miriam dankt Gott, dass sie nicht mehr alleine ist unter den Frauen aus Miskolc, die sie nicht kennt. Erna und Hilda sind bei ihr, zwei Frauen aus Miriams Transport tauschten mit ihnen ihre Plätze. «Wir lagen so eng aneinander, dass diejenige, die sich in der Nacht umdrehen wollte, alle anderen wecken musste, damit sie sich mit umdrehten. Die Frauen, die am Rande der Pritsche lagen, froren. Deshalb tauschten wir regelmäßig unsere Plätze.» Alle drei sind völlig erschöpft, sprechen sich aber Mut zu. Sie sind jetzt eine kleine Familie und bleiben zusammen, egal, was als Nächstes kommt. Wenn es bloß irgendwo Wasser gäbe. Die wenigen Tropfen im Duschraum haben
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