Geboren im KZ: Sieben Mütter, sieben Kinder und das Wunder von Kaufering I (German Edition)
Aufschub ihrer geplanten Ermordung.
Am Sonntag haben die Frauen in den Michelwerken, nachdem sie aufgeräumt und geputzt haben, frei und dürfen sich duschen. Die Frauen drängeln sich vor dem kleinen Spiegel, jede will sehen, um wie viele Millimeter ihre Haare seit dem letzten Sonntag gewachsen sind. Dann stellen sie sich in eine lange Schlange zur Ausgabe von Binden an. Ein Mädchen führt im Auftrag der Aufseherinnen eine Liste. Wer sich mehr Binden erschleichen will, wird bestraft. Wegen der Unterernährung und starken psychischen Belastung verloren die meisten weiblichen KZ-Häftlinge ihre Menstruation, jetzt bekamen sie sie wieder. Die jungen Frauen freuen sich darüber, hatte sie doch die Sorge gequält, für immer unfruchtbar zu sein. Miriam und Eva empfinden die Sonntage in Augsburg verglichen mit ihren bisherigen Erfahrungen als wunderbar, die erste Zeit zumindest. Freundinnen oder Verwandte sitzen gemeinsam auf einem Bett, unterhalten sich über die Aufseherinnen, die Arbeit oder ihr Zuhause. Auch über die Extraportion Brot wird gesprochen, die einige von ihnen von den Franzosen heimlich erhielten. Die Mädchen, die leer ausgegangen waren, machen gelegentlich sarkastische Bemerkungen über die Glücklicheren. Manchmal kommt es darüber sogar zu einem richtigen Streit. Die Gruppen, die sich gebildet haben, halten aber zusammen und teilen untereinander das wenige, das sie haben. Die gläubigen Frauen beten oft gemeinsam. Zwei aus Dunajská Streda haben sogar einen Siddur dabei, das jüdische Gebetbuch, das sie für ein Stück Brot den anderen ausleihen. Niemand weiß, woher sie dieses Gebetbuch, eine wahre Kostbarkeit, haben. Für Miriam, die auch ohne Siddur ständig betet, hat jetzt Brot einen größeren Wert. Sie muss an ihr ungeborenes Kind denken, das ist das Wichtigste. In den späten Nachmittagsstunden beginnt schon die Vorfreude auf das Abendessen. Die ersten zwei Sonntage bekommen sie einen Teller herrlich duftender Suppe mit Kartoffeln und Fleisch, die sie an ungarisches Gulasch erinnert. Einige streng religiöse Mädchen weigern sich, das Suppenfleisch zu essen. Es ist nicht koscher, sagen sie und schieben den Teller beiseite. Die Einhaltung der rituellen Speisegesetze ist im Konzentrationslager zwar nicht möglich, doch es ist ihnen wichtig, dass sie sich wenigstens dieses Fleisch versagen. Aber mit der Reaktion der Aufseherin Traudl Kötz, die das Küchenkommando leitet, hätten sie nie gerechnet. Sie befiehlt, den Mädchen gekochte Karotten und Kartoffeln zu geben, damit sie nicht hungrig ins Bett gehen müssen. In den ersten Wochen dürfen die Frauen nach dem Zählappell am Abend noch bis 22 Uhr wach bleiben. Freundinnen und Verwandte, die in getrennten Schlafsälen untergebraucht sind, nutzen die Zeit für Besuche. Eine der Frauen, sie ist Lehrerin, rezitiert Shakespeare, eine andere bringt ihren Bettnachbarinnen einige deutsche Worte bei, damit sie sich mit den Zivilarbeitern in der Fabrik verständigen können, eine unter Umständen notwendige Voraussetzung zum Überleben. Eine andere Gruppe lauscht andächtig der Tochter des Rabbiners von Komárno, Renée, die eine wunderschöne Stimme hat. Sie singt fast jeden Abend vor dem Einschlafen Kol Nidre, das uralte jüdische Gebet, das am Vorabend des Fasten- und Gebetstages Jom Kippur in der Synagoge vom Kantor gesungen wird und den Versöhnungstag einleitet. Den genauen Wortlaut kennen die meisten nicht – der Originaltext ist in aramäischer Sprache verfasst –, aber alle kennen die Melodie. Der innige Gesang Renées steigt, begleitet vom leisen Summen der Mädchen, in dem großen Schlafsaal auf. Ihre geschundenen Seelen fühlen sich in diesem Augenblick frei.
An einem Freitagabend, gleich nach Sonnenuntergang, geschieht etwas Außergewöhnliches: Viele Jahre später wird die damals 14-jährige Elli Friedman davon in ihrem Buch «1000 Jahre habe ich gelebt» erzählen. Ihre Mutter, eine orthodoxe Frau aus Šamorín, zündet zum Sabbat eine Kerze an, die sie aus einer mit Öl gefüllten Kartoffel gebastelt hat. Das Öl wurde aus der Dreherei in den Schlafsaal geschmuggelt. Die Frauen bilden einen Kreis und lauschen dem Sabbatsegen, den die Mutter leise flüsternd spricht. In diesem Moment entdeckt ein Wächter das Licht. Wütend brüllt er die Frau an, verlangt, dass die Kerze sofort gelöscht wird. Als er hinausgeht, dreht er sich noch einmal um und sagt nun ganz ruhig zu Ellis Mutter: «Das darfst du nicht mehr machen.» Er bestraft sie
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