Geboren im KZ: Sieben Mütter, sieben Kinder und das Wunder von Kaufering I (German Edition)
ein, zwei Sekunden ein Aufleuchten vergangenen Glücks. Schon am frühen Morgen hat Franz, der deutsche Zivilarbeiter, den Apfel für sie auf der Toilette versteckt. Gestern hatte sie ihn um einen gebeten. Sein freundlicher Blick hatte ihr Mut gemacht. «Von meinem Arbeitsplatz in der Dreherei sah ich jeden Tag den Baum. Ich hatte schon eine Ewigkeit lang keinen Apfel mehr gegessen.» Vorsichtig öffnet Miriam die Toilettentür, auf der die Aufschrift «Für Juden» angebracht ist, lauscht ängstlich auf Schritte und verschlingt den Apfel. Seit drei Wochen ist sie in den Augsburger Michelwerken, einem Außenlager des Konzentrationslagers Dachau. Das Frauenlager wurde am 7. September 1944 errichtet, dem Tag, an dem der Zug mit den fünfhundert jüdischen Häftlingen nach einer zweitägigen Fahrt aus Auschwitz im Augsburger Bahnhof ankam. Einigen von ihnen ist der Name der 2000 Jahre alten Bischofsstadt, die am Zusammenfluss der Flüsse Lech und Wertach liegt und nach München und Nürnberg die drittgrößte Stadt in Bayern ist, aus dem Schulunterricht bekannt. Im Jahre 955 erlitten hier ungarische Truppen in der Schlacht auf dem Lechfeld gegen das Heer von Otto I., König des fränkisch-deutschen Reichs, eine verheerende Niederlage. Im 16. und 17. Jahrhundert zählte Augsburg, Sitz der einflussreichen Kaufmannsfamilie Fugger, zu den bedeutendsten Wirtschaftsund Handelszentren der Welt. Miriam kennt die Geschichte der reichen Fugger, deren Geschäftsbeziehungen früher bis in die ungarische Slowakei reichten. Eine schöne Stadt ist Augsburg, für Miriam aber nur eine Station auf dem Weg durch die Lager der Deutschen.
Am Bahnhof warten Wehrmachtssoldaten. Verwirrt starren sie auf die Frauen in schmutzigen, grauen Lumpen, auf ihre kahl geschorenen Köpfe und in ihre ängstlichen Gesichter. Fabrikchef Johann Michel hatte weibliche KZ-Häftlinge angefordert. Sollen das etwa diese ausgemergelten Gestalten sein, die sie in die Fabrik bringen sollen? Die überraschten Gesichter der Soldaten wirken so komisch, dass ein paar Mädchen Witze machen. Was haben die denn erwartet, wissen sie nicht, woher wir kommen, sagt eine. Eva lächelt müde. Nach kurzer Diskussion stellen die Soldaten fest, dass es sich um keinen Irrtum handelt. Die Frauenkolonne setzt sich in Bewegung. Fünfhundert Paar Füße in Holzpantoffeln marschieren durch die Straßen. Die ersten Eindrücke sind vielversprechend. Häuser in der Umgebung des Bahnhofs und in der Innenstadt sind von Bomben zerstört worden. Das ist ein sicheres Zeichen, dass alliierte Flugzeuge bereits hier gewesen sind. Niemand brüllt die Frauen an, nirgendwo sehen sie SS-Uniformen oder Schäferhunde. Die Stadt wirkt fast friedlich. Miriam atmet tief ein. Die Luft ist rein und frisch, fast wie zu Hause in Komárno. «Es war unbeschreiblich. Nach einer langen Zeit sahen wir wieder Birnen- und Apfelbäume, rochen ihren herrlichen Duft und hörten den Gesang von Vögeln.» Die Fabrik, zu der sie im Lärm ihrer Holzpantoffeln marschieren, liegt an der Peripherie, im Stadtteil Kriegshaber. Als die Frauen ankommen, können sie es nicht fassen. Vor ihnen erheben sich die Gebäude eines modernen Fabrikkomplexes, der überhaupt nicht an Płaszów oder Birkenau erinnert. Kein Stacheldraht. Keine Wachtürme. Und vor allem gibt es hier keine Krematorien mit Schornsteinen, nicht diesen süßlichen, ekelhaften Geruch. «Das war eine völlig andere Welt.» Miriam ist erleichtert, bleibt aber misstrauisch.
Firmengelände der Augsburger Michelwerke, früher Außenlager des KZ Dachau, um 1950
Neugierig versammeln sich deutsche Zivilisten, die in der Fabrik arbeiten, hinter dem Eingangstor. «Seid ihr Frauen oder Männer?», fragt jemand erstaunt. Einige Arbeiter wirken freundlich, manche Blicke scheinen sogar Mitleid auszudrücken. Die weiblichen Häftlinge werden in große Schlafsäle im zweiten Stock des Nordgebäudes der Michelwerke geführt. Auf den Etagenbetten liegen neue Strohsäcke, bezogen mit einem Leintuch, es gibt auch Kissen. Nach Wochen voller Schmutz können die Frauen sich duschen, sie bekommen Handtücher und Seifenpulver. Kichernd stehen Eva und Ida vor einem Blechkanister, der als Waschbecken dient, und freuen sich über das fließende Wasser. Seit ihrer Ankunft in Birkenau im Juni ist es das erste Mal, dass sie sich waschen können. Eva verliert fast das Gleichgewicht, als sie mit ihrem gewölbten Bauch versucht, ihr rechtes Bein in das hochgehängte Becken zu stellen. Das
Weitere Kostenlose Bücher