Geboren im KZ: Sieben Mütter, sieben Kinder und das Wunder von Kaufering I (German Edition)
jeder Bewegung ist ihr Bauch im Weg. «Aber alles war in Augsburg viel besser als in Auschwitz.» Eva, die Ende September im sechsten Monat ist, kommt in die Lackiererei. Die beiden wissen immer noch nichts voneinander. Glücklicherweise scheint sich von der Bewachung niemand für ihre Schwangerschaft zu interessieren. Die zweite Gruppe, in der zweihundert weitere Frauen sind, muss täglich zur etwa einen Kilometer entfernten Fabrik «Keller und Knappich» – genannt K. U. K. A – marschieren. Ältere Wehrmachtssoldaten begleiten die Frauen auf dem Weg zur Arbeit und zurück. Während des Krieges produziert die 1898 gegründete Maschinenfabrik Rüstungsgüter aus Stahl wie Granatwerfer. Gearbeitet wird in zwei Schichten: eine Woche tagsüber, die folgende nachts. Eine Schicht dauert zwölf Stunden, von sechs Uhr morgens bis sechs Uhr abends. Nach dem Frühstück – es gibt richtigen Kaffee, ein Stück Brot mit Margarine, manchmal auch einen Klacks Marmelade – gehen die Frauen zur Fabrikhalle. Die Arbeit ist schwer, aber sie sind froh, unter einem Dach und in geheizten Räumen zu sein. Den Frauen ist es erlaubt, tagsüber den Waschraum im Erdgeschoss zu benutzen. Die paar Minuten, in denen sie sich das Gesicht erfrischen, macht die Schufterei etwas erträglicher. Neben den ungarischen Jüdinnen und einigen deutschen Zivilarbeitern sind in den Michelwerken und in der K. U. K. A vor allem Kriegsgefangene aus Frankreich und Italien eingesetzt, auch einige russischsprachige Zwangsarbeiter. Es ist bei Strafe verboten, miteinander zu reden. Doch gleich in der ersten Woche beginnt hinter dem Rücken der Wächter das Flüstern. «Wo kommt ihr her, warum habt ihr keine Haare?», fragen die Franzosen. Einige haben in der Kriegsgefangenschaft ein wenig Deutsch gelernt, und auch unter den Mädchen finden sich ein paar, die Französisch können. Der deutsche Arbeiter Franz, der direkt gegenüber Miriam an der Werkbank arbeitet, scheint irgendwie anders zu sein als die anderen Deutschen, die Miriam bisher kennengelernt hat. Manchmal lächelt er sie sogar an. Sie täuscht sich nicht. Franz versteckt für sie mal ein Stück Brot oder Käse, mal einen Apfel auf der Toilette. Die Tage vergehen, und die Mädchen schöpfen wieder Mut. Sie dürfen ihre Haare wachsen lassen, und dadurch kehrt auch ihr weibliches Selbstbewusstsein zurück. Einige beginnen sogar, mit den jungen Franzosen zu flirten. Die deutschen Angestellten behandeln die weiblichen Häftlinge anständig, zumindest quälen und demütigen sie sie nicht. Oft bringen sie ihnen sogar deutsche Zeitungen mit, die dann auf der Toilette gelesen werden. Das darf natürlich niemand erfahren, denn auch Zeitungen sind streng verboten. Vor dem älteren Soldaten, der die Mädchen in der Montage bewacht, fürchten sie sich überhaupt nicht mehr. Wenn eine am Fließband einen Fehler macht, tut er so, als hätte er nichts gesehen. «Ihr müsst nicht so schnell arbeiten», flüstert er ihnen zu. Er erzählt auch, dass Deutschland schon den Krieg verloren habe und bald alles vorbei sei. Meister Zerkübel dagegen ist vom deutschen Sieg noch immer fest überzeugt.
Seit Anfang des Jahres fliegen die Alliierten Angriffe auf deutsche Fabriken und fügen ihnen schwere Schäden zu. Die Produktion sinkt um fast zwei Drittel. Der Zustrom ausländischer Zwangsarbeiter und Kriegsgefangener gerät Anfang 1944 ins Stocken. Die Rüstungsindustrie braucht Arbeitskräfte, und die einzige Möglichkeit, sie zu rekrutieren, besteht in der Deportation von Juden aus den geräumten Gettos in Osteuropa und aus Auschwitz. Das größte Vernichtungslager der Nationalsozialisten wird zur Drehscheibe eines europaweiten Sklavenmarkts. Jüdische Zwangsarbeiter, die als arbeitsfähig gelten, werden deshalb nicht sofort ermordet und kommen in die Rüstungsfabriken. So verliert Rüstungsminister Albert Speer, statistisch gesehen, keine Arbeitskraft. Im Frühjahr und Sommer 1944 sind es vor allem Juden aus Ungarn, Hunderttausende, die mit den Transporten ins Deutsche Reich verschleppt werden. Das Naziregime, das sich mit dem «judenfreien» Reich gebrüstet hatte, holt jetzt Arbeitskräfte aus dem Vernichtungslager. Der Reichsführer SS Himmler fordert ausdrücklich auch jüdische Frauen an. Dabei war der Einsatz weiblicher Häftlinge lange Zeit umstritten, erst im Frühjahr 1944 gaben die Industriellen ihre Vorbehalte gegenüber Frauenarbeit auf. Für die jüdischen Häftlinge bedeutet diese Entwicklung aber nur einen
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