Geboren im KZ: Sieben Mütter, sieben Kinder und das Wunder von Kaufering I (German Edition)
Kaufering I, das war das Schlimmste, das war Sadismus pur.» Der großgewachsene, schlanke Mann mit kurzärmeligem Hemd, schwarzer Hose und einer Baseballmütze auf dem Kopf sitzt in einem Gartenrestaurant in Tel Aviv. Sein Milchkaffee ist längst kalt geworden, aber das bemerkt der 83-Jährige gar nicht. In Gedanken ist er wieder «dort». Unter dem Decknamen «Ringeltaube» begannen im Mai 1944 in der Nähe des bayerischen Städtchens Landsberg am Lech, etwa 60 Kilometer von Dachau entfernt, Bauarbeiten für ein neues, gigantisches Rüstungsvorhaben des Deutschen Reichs. Die Luftangriffe der Alliierten hatten 1944 die Flugzeugproduktion fast zum Stillstand gebracht, sie sollte deshalb in halb unterirdische, bombensichere Fabrikhallen verlegt werden. Für die Ausführung der Pläne waren Rüstungsminister Albert Speer und die ihm unterstehende Organisation Todt (OT) zuständig. In der Umgebung von Landsberg mit ihrem Kiesboden, Eisenbahnlinien und Grundwasserreserven sollten drei solcher Großbunker entstehen, in denen unter anderem der neueste Messerschmitt-Flugzeugtyp Me 262 produziert werden sollte. Kriegsverlauf und Mangel an Baumaterial führten dazu, dass das ursprüngliche Projekt auf nur einen Bunker reduziert wurde, der den Tarnnamen «Weingut II» erhielt. Ab Mitte 1944 entstanden in der Nähe der Baustelle, in der Umgebung von Landsberg und Kaufering, elf Außenlager des KZ Dachau. Es war der größte Dachauer Außenlagerkomplex. Da es an SS-Wachleuten fehlte, befahl Hitler, 10.000 von der Krim evakuierte Soldaten für den SS-Wachdienst in den deutschen Konzentrationslagern einzusetzen. Neben Juden aus den liquidierten Gettos in Litauen und Polen sowie kleineren Gruppen aus weiteren europäischen Ländern wurden in die elf Kauferinger Lager vor allem Juden aus Ungarn und ungarischem Staatsgebiet, Siebenbürgen, Karpatho-Ukraine und Südslowakei, zur Zwangsarbeit verschleppt. Im Juni 1944 rühmte sich Himmler in seiner Rede vor Generälen in Sonthofen: «Zurzeit fahren wir zunächst 100.000, später noch einmal 100.000 männliche Juden aus Ungarn in Konzentrationslager ein, mit denen wir unterirdische Fabriken bauen.» Albert Speer reichte das aber nicht. Wiederholt beschwerte sich der Rüstungsminister, dessen Ansehen 1944 bereits stark gelitten hatte, dass er nicht genügend Arbeitskräfte bekomme, und verlangte jüdische Häftlinge aus Auschwitz.
Seit zwei Stunden erzählt Uri Chanoch schon von Kaufering und davon, was dieses Lager für Überlebende wie ihn noch heute bedeutet. Immer wieder erhebt er seine sonore Stimme, berichtet von den schrecklichen Erlebnissen, die sich in sein Gedächtnis eingegraben haben. In dem Restaurant, einem Treffpunkt junger säkularer Israelis und Geschäftsleute, scheint es niemanden zu interessieren, dass er laut auf Deutsch spricht. Die Menschen sind in ihre eigenen Gespräche vertieft. Nur eine ältere Frau, die zwei Tische weiter allein vor ihrem Kaffee sitzt, dreht sich mehrmals um. Ihre Blicke verraten Missbilligung. Seit Jahren bemüht sich Uri Chanoch darum, dass den Menschen in Deutschland bewusst wird, welche Rolle der Dachauer Außenlagerkomplex Kaufering/Landsberg für das jüdische Volk spielte. «Bis zur letzten Minute haben die Deutschen dort unsere Leute umgebracht. Wir sollten durch die Arbeit vernichtet werden. Aber diese sieben Frauen ließen sie am Leben. Warum?» Im Lager hatte er davon nichts gewusst, und es ist, als fühle er sich betrogen um die Hoffnung, die ihm die Frauen und ihre Babys damals vielleicht gegeben hätten. Als Miriam, Eva, Bözsi, Sara, Magda, Ibolya und Dora Ende November 1944 in Kaufering I ankamen, zählten sie wie auch Uri, der mit seinem Vater und Bruder schon im Juli 1944 nach Bayern verschleppt wurde, zum kleinen Rest des fast schon vernichteten europäischen Judentums. Von den etwa 30.000 überwiegend jüdischen KZ-Häftlingen in den elf Kauferinger Lagern überlebte nach Schätzungen jeder Zweite nicht. Etwa 14.500 Menschen starben an Hunger, Erschöpfung, Krankheiten und Kälte, sie wurden zu Tode geprügelt, nach Auschwitz oder in die Sterbelager Kaufering IV, VII oder nach Bergen-Belsen deportiert, erschossen oder erhängt. Mehr als 2500 Häftlinge, die meisten aus Litauen und Ungarn, waren gezwungen, im Lager I zu leben, dem Zentrallager im Lagerkomplex Kaufering/Landsberg. Sie schliefen in 58 mit Lehm und Gras bedeckten Erdhütten, hatten keine ausreichende Kleidung, waren verdreckt und verlaust.
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