Geboren im KZ: Sieben Mütter, sieben Kinder und das Wunder von Kaufering I (German Edition)
SS-Lagerpersonal und OT-Männer zwangen sie zu mörderischer Arbeit und ließen sie dabei verhungern. Die Deutschen misshandelten die Häftlinge für kleinste Verstöße gegen die Lagerdisziplin oder einfach so, aus Lust am Quälen und aus Verachtung für Juden. Vierzehn Stunden lang ließ der SS-Hauptscharführer Johann Kirsch den damals 16-jährigen Uri im Winter 1944/45 in Schnee und Wind am Lagertor strammstehen. Im Mund musste er die ganze Zeit eine rohe Kartoffel halten, eine Bestrafung dafür, dass er sie zu stehlen versucht hatte. «Hätte ich mich damals nur ein bisschen bewegt oder die Kartoffel verschluckt, wäre ich heute nicht da.»
In Todesangst lebte Uri seit 1941, als die Wehrmacht Litauen besetzte und nicht nur SS-Einsatzkommandos, sondern auch ihre zahlreichen litauischen Helfer sofort Jagd auf Juden machten. Schon als kleiner Junge im Getto Kaunas versorgte er den Untergrund mit wichtigen Informationen und gestohlenen Dokumenten. Nach Kriegsende ging er illegal nach Palästina, schloss sich der Untergrundbewegung Haganah («Selbsthilfe») an und kämpfte 1948 im Unabhängigkeitskrieg gegen die Armeen Ägyptens, Jordaniens, Syriens, des Libanon und des Irak, die über den gerade gegründeten Staat Israel herfielen. Die gestreifte Häftlingsuniform von Kaufering hängt immer noch in seinem Kleiderschrank. Das Lager ließ Uri Chanoch all die Jahre nie los. Es ist vor allem die erlittene Demütigung, die der stolze Mann nicht vergessen kann. «Ich hatte noch lange Zeit nach der Befreiung keine Gefühle mehr. Sie haben uns dort die Seele gestohlen», sagt er heute. Nach 1945 habe er nichts mehr gewollt, als ganz einsam, vielleicht als Hirte in den Bergen zu leben und jeden Tag in eine dicke Scheibe Brot mit fingerdick aufgestrichener Butter zu beißen. Aber für das Leben eines Einsiedlers war Uri nie geschaffen. Auch heute, mit 83 Jahren, ist der charismatische und impulsive Mann ständig unterwegs, verhandelt über Entschädigungszahlungen für die Getto- und KZ-Überlebenden und wacht zusammen mit seinem Freund, dem zweiten Vorsitzenden der israelischen Vereinigung der Kaufering-Überlebenden, Abba Naor, im Stiftungsrat der Stiftung Bayerische Gedenkstätten über die Arbeit der bayerischen KZ-Gedenkstätten. Die Toten von Kaufering dürfen nicht vergessen werden, deshalb kämpfen die beiden Männer dafür, dass an allen elf ehemaligen Außenlagern Obelisken errichtet werden. Sie ernten viel Verständnis, aber kein einziges Mahnmal ist bisher errichtet worden. Uri Chanoch kehrt auch immer mal wieder nach Litauen zurück, um Politiker und Behörden daran zu erinnern, dass sie bis heute noch nicht einmal den Versuch unternommen haben, das Unrecht an den jüdischen Bewohnern des Landes wiedergutzumachen. «Das ist ohnehin nicht möglich, aber sie sollen den Überlebenden ihren Besitz zurückgeben.» Wenn Uri, Vorstandsmitglied der Oper von Tel Aviv, auf der Autobahn nach Jerusalem zur Knesset oder zu Yad Vashem rast, dreht er den CD-Player laut auf. Er liebt Opernmusik und hält immer wieder im Rückspiegel Ausschau nach Polizeistreifen, weil er ziemlich hart an der Geschwindigkeitsbegrenzung fährt. Uri Chanoch kehrte ins Leben zurück, vielleicht auch wegen seines kleinen Bruders Danny, der als Einziger aus seiner Familie noch überlebt hatte. Der damals 12-Jährige wurde Ende Juli 1944 bei der sogenannten Kinderaktion zusammen mit weiteren 128 jüdischen Kindern aus Litauen von Kaufering I über das KZ Dachau nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Die Selektion der Kinder im Lager I leitete der fünffache Vater und Arbeitseinsatz- sowie Rapportführer Johann Viktor Kirsch – derselbe Kirsch, der Dannys älteren Bruder Uri einige Wochen später mit einer Kartoffel im Mund stundenlang in der Kälte stehen lassen wird. Die meisten dieser Kinder starben in den Gaskammern, Danny überlebte. Verantwortlich für die Mordaktion war der damalige Lagerkommandant der Außenlager Landsberg/Kaufering, SS-Hauptscharführer Heinrich Forster, der wiederum Befehle aus Dachau befolgte. Für litauische Juden, die aus dem Getto Schaulen kamen, war Forster kein Unbekannter. «Gleich als wir ihn nach unserer Ankunft in Kaufering I sahen, wussten wir, dass es hier schlimm sein wird», erzählt Eta Goz aus Tel Aviv. Sie war zu dieser Zeit neunzehn. Am 5. November 1943 befahl Forster, damals Lagerführer des gerade zum Außenlager des KZ Kauen umgewandelten Gettos Schaulen, sämtliche Kinder bis dreizehn Jahre und alle
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