Geboren im KZ: Sieben Mütter, sieben Kinder und das Wunder von Kaufering I (German Edition)
können dennoch entkommen. Auch Eva ist weitergerannt, die Angst treibt sie immer tiefer in den Wald hinein. Die ganze Zeit regnet es, auf dem schlammigen Boden kann sie nicht richtig laufen. Am Horizont, noch ziemlich weit weg, erblickt sie einige Häuser. Die Bewohner eines Bauernhofs wollen sie aber nicht hereinlassen, nicht einmal in den Innenhof. Sie erschrecken vor den seltsamen Gestalten, die in durchnässter Häftlingskleidung plötzlich vor ihrer Tür stehen. «Dann kam aber eine Frau zu uns, sie war sehr nett und führte uns in eine große Scheune. Auch etwas Brot und Milch hat sie uns gebracht.» Stunden vergehen, und es geschieht nichts. Sind wir jetzt schon in Sicherheit? Ist das etwa die Freiheit? Zuerst flüstern die Häftlinge nur, dann wagen sie es, laut zu sprechen. Einige lachen, und auch Eva beginnt zu glauben, dass sie nun vielleicht doch nichts mehr zu befürchten hat. Dann plötzlich, sie weiß nicht, nach wie vielen Stunden, hört sie Schritte und Geschrei. Alle wissen, was das bedeutet. SS-Männer haben ihr Versteck entdeckt. Erneut werden sie zum Zug getrieben, wieder muss Eva den ganzen Weg zu Fuß gehen, mit ihrer Tochter auf dem Arm. Aus den zerstörten Gebäuden der Bahnstation quillt Rauch, hier und da züngeln noch Flammen empor. «Heraus! Zurück zu den Waggons», schreien die Deutschen. Es fallen Schüsse. Aus dem Wald rennen Gefangene und klettern in die Waggons. Als der Zug am Abend weiterfährt, bleiben viele Tote und Schwerverletzte zurück. Die sieben Mütter und ihre Kinder sind wieder zusammen, alle unverletzt, wie es scheint. Dann sehen sie in Ibolyas Gesicht das Entsetzen. Ihr Baby war während des Fußmarsches ganz tief in die Decken hineingerutscht. Seit einigen Stunden schon habe sie es nicht mehr gehört, sagt sie den anderen. Voller Panik reißt sie die Decken auseinander und erlebt ein kleines Wunder. Die kleine Agnes streckt sich schlaftrunken, gähnt und lächelt ihre überglückliche Mutter an. Es ist Freitagabend, der 27. April 1945. Was wird der nächste Tag bringen, Tod oder Freiheit? Der Zug fährt die ganze Nacht. Es regnet immer noch, und in den offenen Waggons ist es eisig kalt. Am Morgen des 28. April bleibt der Zug an einer Station stehen. Der Name auf dem Schild ist Eva und Miriam bekannt. Sie sind in Dachau.
Es vergehen Stunden, ohne dass etwas geschieht. Die meisten SS-Wachen sind verschwunden. Nur wenige Häftlinge haben die Kraft oder trauen sich, den Zug zu verlassen. Miriam aber verspürt schrecklichen Hunger, und sie hat kaum Milch zum Stillen. «Ich hatte ein Kind, das ich retten und nach Hause bringen musste.» Fest entschlossen springt sie aus dem Waggon, mit ihrem Baby im Arm, überquert die Straße und geht zum ersten Haus, das sie sieht. Sie klopft an die Tür. Eine Frau kommt heraus und fragt, was sie wolle. Miriam sagt auf Deutsch: «Ich habe Hunger und brauche Milch für mein Kind.» Die Deutsche starrt sie an, dann geht sie in die Küche und bringt ihr ein Stück Brot und ein Glas Milch. Miriam bedankt sich, dreht sich um und rennt sofort zurück. Die SS-Wachen sind wieder da, aber keiner sagt etwas zu ihr. Als sie wieder im Zug ist, greifen Dutzende Hände nach ihr, wollen ihr das Brot aus der Hand reißen. «Die Menschen benahmen sich wie die Tiere.» Abgesehen von dem kleinen Stück Brot, das die Häftlinge vor dem Verlassen des Lagers bekamen, hatten die meisten seit eineinhalb Tagen nichts gegessen. Ein Mann, abgemagert bis auf die Knochen, rutscht auf den Knien auf Miriam zu. Er weint. «Miriam, bitte, hilf mir, ich bin am Verhungern. Bitte!» Sie erkennt ihn nicht. «Wer sind Sie?» Als er ihr seinen Namen sagt, erschrickt sie. Es ist Doktor Bandler, ihr Zahnarzt aus Komárno. «Er sah aus wie ein Muselmann.» Sie teilt mit ihm ihr letztes Stück Brot. Die bewaffneten Wachleute befehlen jetzt denjenigen, die noch gehen können, auszusteigen. In der Abenddämmerung erreicht die Häftlingskolonne ein Eisentor mit der Aufschrift «Arbeit macht frei».
Nach ihrer Ankunft im KZ Dachau werden Bözsi, Dora, Ibolya, Magda, Sara, Eva und Miriam zusammen mit ihren Säuglingen gleich in die äußerste Baracke des Lagers gebracht, wo seit Herbst 1944 ein Krankenrevier für Frauen aus den Außenlagern errichtet wurde. Die sieben jüdischen Mütter geraten in das Durcheinander des sich auflösenden Lagers. Die Baracken sind überfüllt, auf dem Appellplatz liegen oder sitzen Gefangene, eine tausendköpfige Menge zerlumpter, erschöpfter,
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