Geboren im KZ: Sieben Mütter, sieben Kinder und das Wunder von Kaufering I (German Edition)
Verlassen der Lager, zahllose Menschen sterben unterwegs, werden erschossen, weil sie zu flüchten versuchen oder nicht mehr weitergehen können. Züge mit Häftlingen geraten auch in Bombardements durch Kampfflugzeuge der Alliierten. Schätzungen des israelischen Historikers Daniel Blatman zufolge starben auf den Todesmärschen etwa 35 Prozent der ungefähr 714.000 Häftlinge, die sich Anfang 1945 in den Konzentrationslagern befanden.
In der letzten Aprilwoche 1945 ist das KZ Dachau mit seinen vielen Außenlagern neben Mauthausen in Österreich das letzte große Lager, das noch in Betrieb ist. Der Befehl zur Räumung des Kauferinger Lagers I kommt am Dienstag, dem 24. April 1945. Binnen zwei Tagen muss das Lager komplett evakuiert werden, kündigt Rapportführer Tempel vor den versammelten Häftlingen an. Die Gesunden sollen zu Fuß gehen, für die Kranken und Schwachen steht ein Zug bereit. Niemand weiß, wohin diese Reise führen wird. Der Erklärung der SS-Wachen, die Gefangenen würden jetzt dem Roten Kreuz übergeben, glaubt niemand. Überall herrscht Angst, Chaos und Geschrei. Die Amerikaner sind schon ganz nahe, und für die SS ist es fast unmöglich, das Lager geordnet zu räumen. Noch am gleichen Tag verlässt eine Kolonne von mehr als 1600 Marschfähigen das Lager. Am Abend des 26. April sind die Kranken an der Reihe. Mit ihnen marschieren Eva, Miriam, Magda, Dora, Bözsi, Ibolya und Sara, alle sieben in einer Reihe, mit ihren Babys im Arm. Die Masse der etwa 1000 kranken und erschöpften Menschen kommt nur langsam voran. Es ist Frühling, aber im bayerischen Voralpenland immer noch bitterkalt, und es regnet stark. Nach nur wenigen Minuten sind alle durchnässt. Mechanisch schiebt Eva einen Fuß vor den anderen, weiter, immer weiter, bloß nicht stehen bleiben. Ihre kleine Tochter, eingewickelt in alles, was sie auf die Schnelle finden konnte, trägt sie die ganze Zeit festgebunden an ihrer Brust. «Es war sehr schwer zu marschieren, denn wir hatten statt richtigen Schuhen nur Holzpantoffeln an. Die Menschen, die nicht weitergehen konnten, wurden sofort umgebracht.» Ein Junge aus Litauen, der für die SS wegen seiner schönen Stimme öfter singen musste, kauert auf dem Boden, hat keine Kraft mehr aufzustehen. Ein SS-Mann brüllt ihn an: «Kannst du nicht oder willst du nicht?» Der Junge sagt leise: «Ich kann nicht.» Da schießt ihm der SS-Mann ohne ein weiteres Wort in den Kopf. Miriam, die sich von ihrer Notoperation noch nicht erholt hat, spürt, wie ihre Kräfte nachlassen. «Auf einmal kam ein Soldat zu mir, mit einem großen Hund, und fragte mich, ob ich Deutsch spräche. Ich solle ihm mein Baby geben, er werde es tragen. Ein Deutscher, der mir helfen wollte! Es war unglaublich.» Dankbar übergibt ihm Miriam den kleinen László, lässt ihn aber nicht aus den Augen. Nach etwa zwei Stunden erreicht die Kolonne den Platz, an dem schon ein langer Zug wartet. Hunderte kranker Häftlinge aus dem Lager IV liegen in den Waggons, sie sollen zusammen mit den Kranken aus dem Lager I nach Dachau gebracht werden. Die Waggons sind schmutzig, und die meisten haben kein Dach. «Alle einsteigen!», schreien die SS-Wachen. Langsam setzt sich der überfüllte Zug mit Typhus- und Hungerkranken in Bewegung. Dicht gedrängt und schlotternd vor Kälte, fahren die sieben Mütter mit ihren Kindern in der Nacht weiter. Wohin, das weiß keiner. In den Morgenstunden gerät der Zug bei Schwabhausen in einen schweren Tieffliegerangriff. Die amerikanischen Jagdbomber schießen auf einen Flakzug, der auf dem Nebengleis steht. Die Mütter und ihre schreienden Babys sind im ersten Waggon hinter der Lokomotive, die sofort zerstört wird. «Ich kann nicht denken, werfe mich schnell auf meine Tochter, um mich herum sind Tote und Verletzte. Noch heute, nach vierzig Jahren, spüre ich den Schrecken», schreibt Magda Schwartz. Eva presst ihr Baby an sich, springt aus dem Waggon, nur weg, und rennt in ein kleines Wäldchen. «Dort habe ich mich sofort auf Marika geworfen und versucht, sie mit meinem Körper zu schützen. Ich dachte, wenn wir von dieser Welt gehen sollen, dann beide gemeinsam.» Miriam sucht Schutz unter einem Baum, scharrt mit den Händen Laub zusammen und wirft es auf László. Schüsse fallen, und sie betet. «Gott, bitte, hilf mir, lass mich mein Kind nach Hause bringen!» Die SS-Wachen unter der Führung von Hauptscharführer Georg Deffner schießen auf die Häftlinge, die versuchen zu fliehen. Viele
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