Gebrauchsanweisung für China (German Edition)
Moderator vor einiger Zeit. Es war die Geschichte eines Steinadlers zu sehen, der verletzt auf einem Feld im Süden von Peking gelandet war, wo ihn eine Bäuerin fand. Ein kleines Märchen nahm seinen Lauf: Die Bäuerin gab den Vogel in die Obhut dreier alter Tierärzte, die in den folgenden Monaten nichts unversucht ließen, das verletzte Tier wieder aufzupäppeln. Das Kamerateam verfolgte die rührenden Anstrengungen der drei über Monate hinweg: Der eine ging täglich lebende Mäuse einkaufen, die die Verkäuferin aus den Tiefen einer Tonne fischte und eine quiekende Handvoll über die Theke schob, der Zweite hielt dem noch immer unter Appetitlosigkeit leidenden Patienten zum Abendbrot ein vor Panik zuckendes Täubchen vor den Schnabel, der Dritte massierte ihm sanft den gebrochenen Flügel.
Schließlich war es so weit: Der Adler war gesund, nun sollte er freigelassen werden, vor laufenden Kameras, unter dem Applaus des ergriffenen Publikums. Nur warteten die Zuschauer vergebens auf die Bilder vom Flug in die Freiheit.Stattdessen sahen sie einen Schnitt ins Studio und einen betroffen dreinblickenden Moderator, der verkündete, es sei »Schreckliches« geschehen. Man habe nicht bedacht, dass der Bezirk Fengtai sich ausgerechnet in jenen Tagen auf seinem alljährlichen Feldzug zur Rattenvernichtung befunden habe, und, was soll man sagen, es gereichte dem Steinadler nicht zum Vorteil, dass er seinen Appetit wiedergefunden hatte: Er stürzte vom Himmel, um sich einen der wie zum Verzehr ausgebreiteten Rattenleichname zu krallen, verschlang ihn und das Gift dazu – und verendete praktisch noch an Ort und Stelle. Der Beitrag endete mit Einspielungen der weinenden Bäuerin und der fassungslosen Retter. Zum Schluss machte die Studiokamera einen feierlichen Schwenk, und da stand er, der stolze Adler: mit scharfem Blick, in vollem Spann, den Bauch voller Sägespäne. Ausgestopft. Noch ist nicht vielen Umweltmärchen in China ein Happy End vergönnt.
Die Geschichte ist also eher ein Gleichnis, auch deshalb, weil bemerkenswerterweise in dem als Beitrag zur Umwelterziehung angekündigten TV-Stück die Moral von der Geschicht’ überhaupt nicht thematisiert wurde: dass das Überleben stolzer Vögel etwas zu tun haben könnte miteiner Einstellung, die nichts dabei findet, Jahr für Jahr in staatlich organisierten Kampagnen für minderwertig befundene Organismen millionenfach zu vergiften, zu ertränken und zu erschlagen.
Ich bekenne nicht ohne Scham, selbst schon bei solchen Schlachtfesten mitgemacht zu haben, namentlich beim Kakerlakenjagen. Die Tierchen können in den wärmeren und feuchteren Gegenden Chinas aber auch erstaunliche Ausmaße annehmen, sodass selbst der wohlmeinende Insektologe ihnen das »-chen« auf der Stelle aberkennen und stattdessen einen Platz in der Hundehütte zuweisen wird. Als Mitbewohner werden sie spätestens dann unangenehm, wenn sie des Sommers durchs offene Fenster hereinsegeln, um einem hernach im Spitz des Halbschuhs aufzulauern, in den man morgens barfuß schlüpft, oder um einen des Nachts so kräftigin die Schulter zu zwicken, dass man mit einem Schrei aus dem Schlaf fährt und vor Schreck die Bettdecke durch das Zimmer schleudert. Ist mir beides passiert.
Neben ihrer Größe ist Zähigkeit die andere erstaunliche Eigenschaft dieser Kakerlaken: Da mag der stärkste Hufschmied seinen Hammer niederfahren lassen, da mag es knacken und spritzen – wer auch nur kurz den Raum verlässt, um einen Besen zu holen, der wird ihn bei seiner Rückkehr vor Überraschung fallen lassen: vom Opfer der Mordtat keine Spur. Hat sich fortgeschleppt, das platte Panzer-Eingeweide-Gemisch. Diese Andeutung von Unsterblichkeit verleiht dem Kampf Mensch – Kakerlake fast mythische Züge, und die Rüstung, die Chinas chemische Industrie ihrem Volk an die Hand gibt, trägt nicht zufällig poetische Namen. »Das letzte Abendmahl« heißt eines der bekannteren, aber bei Weitem nicht das wirkungsvollste Mittelchen: Nach Jahren von Experimenten können wir mit einiger Befugnis vermelden, dass die gemeine Kakerlake vielleicht einen Atomkrieg überleben mag, aber gewiss nicht jenes Pulver, welches in Peking verkauft wird unter dem stolzen Namen »King of Genozide«.
Es wird die Deutschen unter den Lesern interessieren, dass im ganzen Osten und Südosten Asiens keineswegs der eben beschriebene geflügelte Riesenbrummer als schlimmste Plage erachtet wird, sondern eine klitzekleine Küchenschabe von geradezu biblischer
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