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Gebrauchsanweisung für China (German Edition)

Gebrauchsanweisung für China (German Edition)

Titel: Gebrauchsanweisung für China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Strittmatter
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»bleichen Mondsicheln«, die im Idealfall geschwungen waren wie die Augenbrauen, klein wie der Mund und geheim wie das Geschlecht. Dem Körper vier- und fünfjähriger Mädchen in jahrelanger Tortur abgerungen von wohlmeinenden Müttern (»Du willst doch nicht als alte Jungfer enden!«). Von den Töchtern Chinas bezahlt mit gebrochenen Knochen, mit Eiter, Blut und verfaulendem Fleisch, mit durchheulten Nächten, mit einem Leben als Krüppel, nie weit von den inneren Gemächern ( nei ren hießen Frauen auch: »Die im Inneren«). Barbarisch? Den Chinesen schien das Füßebinden lange Zeit im Gegenteil Ausdruck höchster Zivilisation und Verfeinerung. Schließlich war es ein Brauch, der im Kaiserpalast seinen Ursprung und seine Vollendung gefunden hatte – Barbaren, das waren all die Stämme und Völker an den Grenzen des Reiches, deren Frauen sich die Füße nicht banden.
    Und welcher Lohn. Keinen berauschenderen Anblick konnte sich der Lotusliebhaber Fang Xun vorstellen als einen »goldenen Lotus«, nicht länger als drei Zoll (zehn Zentimeter also): geborgen in der Hand eines Mannes, seine Silhouette vor dem flackernden Schein einer Laterne. »Oh! Der kleine Fuß! Ihr Europäer könnt nicht verstehen, wie delikat, wie angenehm und aufregend er ist!«, musste sich der gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Peking praktizierende französische Arzt J. J. Matignon wieder und wieder sagen lassen. Matignon gab sich Mühe beim Verstehen – und den Ausländern, die nichts als Spott und Ekel für den Brauch übrighatten,begegnete er mit der Frage, was lächerlicher sei: die Deformierung, welche Frauen das Laufen schwermache, oder aber jene, welche ihnen die Nieren verschiebe, die Leber zerquetsche und sie nicht selten unfruchtbar mache? Das europäische Korsett also.
    Manchmal sieht man sie noch, in den alten Höfen der Städte, in den Gassen entfernt gelegener Dörfer, wo bis in die Vierzigerjahre des 20. Jahrhunderts hinein den Mädchen die Füße gebunden wurde: die Letzten der Lotusfüßchen, die, der Tag ist nicht mehr fern, ein Jahrtausend chinesischer Kulturgeschichte mit sich ins Grab nehmen werden. Das heutige China steht der Praxis des Füßebindens mit dem gleichen Unverständnis gegenüber wie wir dem Korsett. Mao Zedongs Revolutionäre waren es, die endgültig »die Füße befreiten«, wie sie es damals tatsächlich nannten. Die gleichen Revolutionäre, die keine zwei Jahrzehnte später, in der Kulturrevolution (1966–1976), dem Schönen an sich den Garaus machen wollten: War Schönheit nicht ein »dekadentes«, ein »reaktionäres« Konzept, wie die Liebe auch, wie Musik und Tanz der Alten: Ausdruck kranken Individualismus, den es auszumerzen galt im Interesse der künftigen Gesellschaft? Das waren so »neue Menschen«, die der Vorsitzende Mao da heranzüchtete: »Geschlechtslos waren diese Frauen, noch tiefer gesunken als wir«, heißt es im Buch eines Zeitgenossen. »Der Begriff ›Frauen‹ wurde nur aus Gewohnheit gebraucht. Sie hatten keine Taille, keine Brüste, keinen Hintern.« Der Bericht beschreibt die gespenstische Parade von Neuankömmlingen in einem Lager, aber die Sätze dürfen darüber hinaus Gültigkeit beanspruchen: Ganz China war zu jener Zeit ein gigantisches Umerziehungslager, erloschen der spielerische Blick für den anderen, erstickt der Respekt für sich selbst. »Liebt nicht Schminke und bunte Röcke!«, hatte der Große Vorsitzende befohlen: »Liebt die Uniformröcke!«
    Der Irrsinn ist vorbei, aber Menschen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, dieses Volk umzuerziehen, findet manauch heute nicht wenige. Wer der Frage nachgeht, warum China heute so aussieht, wie es aussieht, draußen auf der Straße, drinnen in den Büros, der landet irgendwann bei Yue-Sai Kan. Diese Frau, die vor ihrer Karriere als Schönheitsmissionarin in diesem Land jahrelang TV-Journalistin in den USA war, verändere China, hat einer einmal bemerkt, Lippenstift für Lippenstift. Kan hat mitgemalt am Gesicht des neuen China, oder vielmehr: am Gesicht der neuen Chinesin. Das kann man ruhig wörtlich nehmen: Der Schatten auf den Lidern der Frau, die einem auf dem Gehsteig entgegenschlendert, das glänzende Rot auf ihren Lippen, der elegante Bogen über ihren Augen, geschwungen wie die Zweige einer Trauerweide – mit großer Wahrscheinlichkeit made by Yue-Sai. Leserinnen der Pekinger Zeitschrift »Global« wählten Yue-Sai Kan zur »einflussreichsten Frau im China der letzten 20 Jahre«, weit vor der

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