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Gebrauchsanweisung für China (German Edition)

Gebrauchsanweisung für China (German Edition)

Titel: Gebrauchsanweisung für China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Strittmatter
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Dieser Anzug hat seinen Schöpfer überlebt, er wird auch Ding Kuai’an überleben, das kleine Schneiderlein, das ihm sein Leben gewidmet hat. Waren es Tausende? Zehntausende? Immer die gleichen vier Taschen mit immer den gleichen, wie eine Klammer nach unten geschwungenen Klappen, immer die fünf Knöpfe am Revers, immer die drei an der Manschette. Zu tragen ist der Anzug hochgeschlossen, so packt er seinen Träger in Halt und Würde, vom Hemd darunter darf nur der Rand des Kragens sichtbar sein. Keine Falte ist erlaubt. »Es ist eine Kunst«, sagt Meister Ding. »Viel schwieriger als ein westlicher Anzug.«
    Ding Kuai’an, der 75-jährige Schneider, und Sui Jianguo, der Bildhauer, der eine Generation später zur Welt kam: Beide haben sie sich abgearbeitet am Zhongshan-Anzug, beide auf ihre Art. Und bei beiden war Mao schuld. Der für sich in Anspruch nahm, der wahre Erbe des verehrten Sun Yat-sens zu sein, und deshalb in seinen Anzug geschlüpft war.»Das Land zu retten. Darum ging es immer«, sagt Bildhauer Sui. Um den Zusammenprall von West und Ost. Um den verzweifelten Versuch, China mit Anleihen westlichen Denkens und westlicher Technik zu modernisieren und gleichzeitig sein Erbe zu bewahren. »Dafür steht der Zhongshan-Anzug«, sagt Sui: »Für die ganzen letzten hundert Jahre.« Bei Sun war er Sinnbild für Avantgarde, unter Mao Zeichen totaler Konformität und Unterwerfung. »Und am Ende war Deng Xiaoping der einzige Mann im Land, der den Anzug noch getragen hat«, sagt Sui.
    Ende? Moment – das sah nur aus wie das Ende, da ahnte noch keiner, dass Jahrzehnte nach Maos rotem Buch plötzlich Maos graues Tuch hipp werden würde, als »China Chic«.
    Sun Yat-sen wollte alte Zöpfe abschneiden. Das ist wörtlich gemeint. Das Kaiserhaus der Mandschuren wollte er auslöschen. Und so schnitten seine Revolutionäre zuerst den verhassten, allen chinesischen Männerköpfen anbefohlenen Mandschurenzopf ab – und tauschten sodann die traditionelle Robe ein gegen eine neue Kleidung, die Modernität symbolisieren sollte. Es finden sich in Sun Yat-sens Entwurf Züge japanischer Studentenuniformen (der Stehkragen) ebenso wie Anleihen bei der deutschen Militärkluft (die Außentaschen). »Aber die Falte, die er dem Anzug hinten gab, die hat er sich bei den Bauernjacken seiner Heimat Kanton abgeschaut«, das glaubt zumindest Sui Jianguo.
    Die Kuomintang (KMT), die von Sun gegründete Partei, machte den Anzug 1923 zur Pflichtkleidung aller Beamten. Zwei Jahre später starb Sun. Und bald schlüpfte der Kommunist Mao Zedong in das Kleid: Es war der am Leib getragene Anspruch, der wahre Nachfolger Sun Yat-sens zu sein. (In seinen Privatgemächern hingegen schlurfte Mao am liebsten im Schlafanzug umher, wie Leibarzt Li Zhisui berichtet.)
    Ein Vierteljahrhundert später, es war 1948, die Rotarmisten hatten die KMT eben aus Peking vertrieben, da erreichte den jungen Schneiderlehrling Ding Kuai’an und seinen MeisterWang Ziqing der Ruf, schnell in die »Duftberge« am Stadtrand zu kommen, wo die KP ihr Lager hatte: Ein Führer benötige ihre Dienste. »Wir wussten nicht, wer es war. Man sagte uns keine Namen – und damals waren keine Fotos von den Kommunisten im Umlauf, gab es noch kein Fernsehen«, erzählt Meister Ding. Sie sahen ihren Kunden nur aus der Ferne, konnten ihn nicht einmal vermessen: »Die Leibwache ließ uns nicht ran.« Sie schneiderten quasi per Fernblick, und ein paar Monate darauf mussten sie einen zweiten Anzug liefern. Den zog der Mann aus den Duftbergen dann an, als er am 1. Oktober 1949 das Tor des Himmlischen Friedens im Herzen Pekings bestieg und dort die Gründung der Volksrepublik China ausrief. Was fühlte er damals, der Schneiderlehrling? »Aya! Viel zu groß war das Teil!«, ruft Ding. »Aber Mao zog es noch jahrelang an. Mao war so sparsam. Später hat er uns gesagt, wir sollen die Innentasche weglassen, weil er eh nie Geld bei sich trage.« Nicht, dass er das gebraucht hätte. Sie änderten noch andere Details, machten etwa aus dem Stehkragen des Originals einen schmalen Rundkragen.
    Mao hatte kaum seinen Thron bestiegen, da versteckten Chinas Schneidereien ihre alten Schnittmuster: Die feinen Läden in Shanghai, die noch eben den letzten Schrei in Frack und Smoking angepriesen hatten, stellten über Nacht um auf des neuen Kaisers Kleider. Man trug nun Mao. »Wenn der Bräutigam damals für die Hochzeit keinen Zhongshan-Anzug auftreiben konnte«, erzählt Sui Jianguo, »dann weigerte sich die

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