Gebrauchsanweisung für China (German Edition)
Tischtennislegende Deng Yaping.
Yue-Sai – sagt Yue-Sai – hat zuerst die Welt ins Land gebracht und dann die Lust an der Schönheit. Und das Publikum nickt und bedient sich aus den Schminktöpfen, von denen ihr markantes Gesicht grüßt, von Grafikern zu einem zeitlos blassen Klassiker stilisiert: die ausladende Frisur, die großen Augen und darunter ein Mund, so rot, ach so rot: ein Feuertropfen im Schneeland. »Wir waren die Ersten«, sagt dieser Mund. »Sind wir nicht schön?«, fragen die Augen und funkeln kokett. »Komm schon, sind wir nicht schön?«, stimmen auch die Lippen ein: »Wir Asiatinnen?«
Kleinbürgertum
Früher: Schimpfwort, Dorn im Auge der Revolution. S. a. → Mao Zedong: »Der Schwanz des K. ist noch nicht vollständig abgehackt.« Heute: das Gegenteil. Mit der Verwandlung des Kommunismus in den Konsumismus erlebte das Wort xiao zi in Chinas Städten einen erstaunlichen Bedeutungswandel: »Kleinbürger« bzw. »kleinbürgerlich« zu sein gilt nun unter jungen Städtern nicht nur als erstrebenswert, sondern geradezu als ku (cool) und lang man (romantisch). Anders als im deutschen Milieu besitzt der neue chinesische K. dabei in der Regel weder Opel Corsa noch Bausparvertrag ( noch nicht: Schwäbisch Hall hat schon erste Filialen in China eröffnet). Der Pekinger xiao zi trinkt vielmehr Cappuccino, spricht ein paar Brocken Englisch, schaut die richtigen Filme (»Die wunderbare Welt der Amélie«), hört die richtige Musik (Bebel Gilberto), liest die richtigen Bücher (Milan Kundera) und besucht die richtigen Bars (»Suzie Wong«). Pekings U-Bahn-Kioske verkaufen ein Ratgeberbuch, das verrät, wie man ein »kleinbürgerliches Fräulein« wird. Im Internet kursiert ein Test, der einem verrät, ob man schon eines ist: Ein echter Kleinbürger trinkt demzufolge Mineralwasser statt Cola,schläft gerne nackt und hat ein Regal mit mindestens dreißig Flaschen Rotwein im Schlafzimmer. Er trägt nie helle Hosen und streut seine Anglizismen sparsam, aber wirkungsvoll: »Entschuldige, mir fällt gerade nicht ein, wie man das auf Chinesisch sagt.« Chinas moderner Kleinbürgergeist ist mehr Haltung als Klassenzugehörigkeit und ebenso Ausdruck eines neuen – vorgestanzten – Individualismus wie zunehmender Konsumfreude. Eine gewisse Zaghaftigkeit kommt ihm dennoch nie abhanden: Aus seiner Welt bricht er letztlich nicht aus. »Es fehlt ihm der Mut«, schreibt die Kantoner Zeitschrift »New Weekly«. »Klein« ( xiao ) bleibt dieser Bürger auch heute, sein Geist ein Feind aller Revolution, da hatte Mao schon recht. China aber verändert er auch so.
1300000000. Oder: Aufsteigen
aus der Masse
Was bedeutet es eigentlich, einer von 1,3 Milliarden, einer von eintausenddreihundert Millionen, einer von einhundertdreißigtausend mal zehntausend zu sein? In einem aufstrebenden, aber noch immer armen Land, in dem Glück und Wohlstand nur einem Bruchteil davon vorbehalten zu sein scheinen? Aufzuwachsen ohne Geschwister, weil die Regierung findet, das Land sei schon übervoll – und hat sie nicht recht? Ein Tropfen im Ozean zu sein, nicht Herr über die eigene Reise? Landser zu sein in jenem unendlichen Heer zu Hause längst überflüssiger Bauernsöhne, die die Scholle verlassen und losziehen, sich auf den Baustellen der Städte und in den Fabriken der Ausländer zu verdingen? Zu wissen, dass diese Löhne auf Jahre und Jahrzehnte die niedrigsten der Welt bleiben werden, weil im Hinterland noch Brüder und Vettern harren, Hunderte von Millionen, die lauern auf ihre Chance, ein Dutzend für jede frei werdende Stelle? Oder in den Städten von der Schule zum Schwimmkurs zum Klavierunterricht zur Englisch-Nachhilfe zur Abendschule zu eilen, weil es gilt, das Nachbarkind auszustechen, unzählige Nachbarkinder? Sich Morgen für Morgen in einen aus allen Nähten platzenden Buszwängen zu müssen, um tagsüber im Klassenzimmer und später zu Hause beim Pauken bis Mitternacht unter den wachsamen Augen der Eltern für den Wettstreit gedrillt zu werden: um die wenigen Plätze auf die weiterführende Schule, die allein die Teilnahme an der gefürchteten Hochschulaufnahmeprüfung garantiert, die allein einen Platz an einer guten Universität ermöglicht, der allein gute Arbeit und Geld verspricht? Denn das ist es doch, was hier alle ein gutes Leben nennen: wenn einer am Ende zu der Handvoll gehört, die Zugang hat zu den wenigen Honigtöpfen.
Weit verbreitet in China ist das Konzept der tai jiao , der
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