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Gebrauchsanweisung für den Gardasee

Gebrauchsanweisung für den Gardasee

Titel: Gebrauchsanweisung für den Gardasee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Stephan
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sich das Erbstück mal aus der Nähe anzugucken … Dem Anblick des Hauses allein, es ist keine sonderlich prunkvolle Villa, hätten die Pasquettis womöglich widerstehen können – nicht aber dem, was sie vom Haus und vom Park aus sahen. So übt der Dottore Pasquetti heute eben seinen Beruf im Krankenhaus von Rovereto aus, die Töchter gehen in Riva zur Schule, Signora Pasquetti kümmert sich um das Haus und die Gäste, und die Gardasee-Bevölkerung ist dabei, wieder vier Exilanten mehr in ihre Reihen zu integrieren.
    Eine Wirtsfrau aus Kuba, eine Arztfamilie aus Argentinien – wir sind relativ sicher, das ließe sich noch steigern; wenn wir unbedingt gewollt hätten, hätten wir zur weiteren Verdeutlichung unserer Exilantentheorie irgendwo am See auch noch wirkliche Antipoden aufgetrieben, Surflehrer etwa, die aus Australien oder gar aus Neuseeland zugewandert sind. Doch auf diese exotischen Beispiele kommt es hier weniger an als aufs Prinzip, das wir mit ihnen verdeutlichen wollten. Wir könnten noch Milena aus Slowenien erwähnen, die wir im einsamen Hochtal von Tremosine kennengelernt haben, wo sie Arbeit und Wohnung gefunden hat, oder Dagmar, die Hotelfachfrau aus dem österreichischen Lienz, die sich lieber in Garda niederließ, statt daheim in den gutfunktionierenden elterlichen Hotelbetrieb einzusteigen. Doch natürlich kommen die allermeisten der Zugereisten hier aus wesentlich näheren Regionen, oft sogar aus den direkt an den See angrenzenden Provinzen.
    Vielleicht sollte man an dieser Stelle noch einmal ganz ausdrücklich sagen: Südtirol zählt nicht zu diesen drei Provinzen. Gewiß war von 1797 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs an das Ostufer des Sees, und vom Wiener Kongreß bis zum Risorgimento, also bis zur Selbstgründung und Selbstbefreiung des italienischen Staates, sogar das Westufer österreichisch. (Auf die entscheidende Schlacht bei Solferino im Jahr 1859 kommen wir später zu sprechen.) Und dazwischen, von 1805 bis 1815, gehörten Riva und das Ostufer – wie Südtirol und der gesamte Trentino – sogar zum Königreich Bayern. All dies natürlich von Napoleons Gnaden; aber es ist eher lustig zu sehen, welche Verehrung gerade deutsche Nationalkonservative bis heute den »antinapoleonischen« Südtiroler Freiheitskämpfern und deren Protagonisten Andreas Hofer entgegenbringen: Es war schließlich die bayerische Herrschaft, die Andreas Hofer abzuschütteln trachtete.
    Auch mit dem österreichischen Einfluß, zumal dem auf die Mentalität der Gardasee-Anrainer, war es auch und gerade während der 120 Jahre der Habsburgerherrschaft über das Ostufer nicht sehr weit her. Freilich sieht man den alten kaisergelben Hotelbauten und vielen herrschaftlichen Villen die einstige Rolle Rivas als See- und Luftkurort für Österreichs bessere Stände – andere konnten sich’s eh nicht leisten – noch heute an. Und natürlich waren auch die vielen Trentiner, die dieser erste touristische Aufschwung aus dem nahen Etschtal mit an den See gelockt hatte, nicht so dumm, die Kühe, die sie molken, schlecht zu behandeln. Sie entwickelten, mit anderen Worten, schon damals eine Art Eigenständigkeit als Gardasee-Exilanten, einerseits.
    Andererseits aber beteiligten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert viele der drüben im Etschtal und in den anderen Gebieten des Trentino gebliebenen Verwandten der neuen See-Anrainer an der irridenta, dem mit politischen Mitteln, aber auch mit immer neu aufflammenden Aufständen, mit Sabotageakten und mit Brand- und Sprengstoffanschlägen geförderten Aufbegehren gegen die österreichische Herrschaft: Anders als die meisten Südtiroler wollten die Trentiner um keinen Preis österreichisch sein, sondern dem gerade entstehenden italienischen Staat angehören. Am tridentinischen Ostufer des Gardasees blieb es zwar in dieser Zeit relativ ruhig; doch man kann sich gut vorstellen, daß die Bewohner der Uferorte damals zwei Seelen in ihrer Brust fühlten: Zum einen garantierte die österreichische Herrschaft ihnen einen relativ stabilen Wohlstand; zum anderen waren sie den gegen die autoritäre Habsburgerherrschaft gerichteten Befreiungsparolen, mit denen Garibaldi die Einigung Italiens vorantrieb, keineswegs abgeneigt.
    Das alles ist nicht so lange her, daß es nicht, wenn auch oft nur untergründig spürbar, bis heute nachwirken würde. Gewiß kann von einer kollektiven Schizophrenie heute schon deswegen nicht die Rede sein, weil sich auch die am Gardasee lebenden

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