Gebrauchsanweisung für den Gardasee
geht es von dort aus links wie rechts ausschließlich nach oben. Und die Fahrt von der Autobahn zum Gardasee selbst scheint dieses Gefühl nur zu bestätigen: Man fährt eine knappe halbe Stunde aufwärts bis zum kleinen San-Giovanni-Paß, der den Übergang zwischen Etschtal und Gardasee bildet, braucht aber vom Paß über Nago hinunter an den See allenfalls zehn bis 15 Minuten. Und trotzdem trügt das Gefühl: In Wahrheit liegt der Gardasee, auch wenn er sich zumindest in seinem Nordteil sehr eindeutig als Bergsee präsentiert, gerade mal 65 Meter über dem Meeresspiegel, und damit noch 100 Meter tiefer als die Autobahnabzweigung bei Rovereto.
Doch wie gesagt, noch suchen wir gar nicht nach dem Gardasee, sondern nach einem der 21 – in Worten: einundzwanzig! – kleineren bis winzigen Seen, von denen der riesige Gardasee umgeben ist, dem Lago di Loppio. Nur eben, wir finden ihn nicht, obwohl wir doch hier, zwischen Loppio und dem San-Giovanni-Paß, der Landkarte zufolge gerade dicht an seinem Ufer entlangfahren müßten.
Den Dichterfürsten Dante Alighieri und Johann Wolfgang von Goethe wäre das nicht passiert. Als die beiden hier vorbeikamen, der eine gegen Ende des 12. Jahrhunderts, der andere ein gutes halbes Jahrtausend später, hatten sie nicht die geringste Mühe, den Loppiosee zu finden. Daß sein Anblick sich in ihrem Schaffen dennoch nicht niederschlug, liegt daran, daß sie beide auf bedeutendere Ziele fixiert waren. Goethe zeigte sich, kaum daß er am 12. September 1786 auf seiner italienischen Reise die westliche Spitze des Loppiosees und damit den Paß erreicht hatte, durch den nun auf einen Schlag frei gewordenen Anblick des Gardasees »herrlich belohnt« und ärgerte sich – typisches Urlauberverhalten – lediglich darüber, daß keiner seiner zurückgebliebenen Freunde neben ihm stand, um die »Aussicht, die vor mir liegt«, gebührend zu würdigen. Ganz anders Dante, der gut 500 Jahre vorher hier war. Er verlor nicht einmal über den Gardasee ein Wort; statt dessen ließ der Dichter der »Göttlichen Komödie« sich vom gewaltigen Felssturz der Palestra di Rocca jenseits der Paßhöhe zur Beschreibung jener schauerlichen Felswüste inspirieren, die den Eingang der Hölle umgibt – Sie wissen schon: »Ihr, die ihr hier eintretet, laßt alle Hoffnung fahren.«
Merkwürdigerweise tat sich exakt unterhalb der Stelle, an der Dante damals gestanden haben muß, tatsächlich ein unterirdischer Schlund auf – allerdings erst um die Mitte des 20. Jahrhunderts, als die italienischen Behörden sich entschlossen, einen Kanaltunnel in den Bergwall zwischen Etschtal und Gardasee zu graben, um die Etsch bei Hochwassergefahr schnell entfluten zu können. Und damit sind wir endlich auf der Spur unseres verschwundenen Sees. Entflutet wurde nämlich zunächst nicht die Etsch, sondern der im Zuge der Kanalbauarbeiten angebohrte Loppiosee – und das trotz aller Berechnungen, die genau das verhindern sollten.
Deswegen erstreckt sich heute nördlich der Paßstraße anstelle des Sees ein wild bewachsenes Sumpfgebiet, und zwar eines, das durchaus einen Besuch wert ist. Der kleine Spaziergang zu dem von der tempelartigen Kapelle des heiligen Johannes Nepomuk (nach dem der Paß benannt ist) gekrönten Sumpfinselchen Elosina führt durch ein landschaftlich außerordentlich reizvolles, mittlerweile unter Naturschutz gestelltes Biotop, auf dem zahlreiche seltene und sogar einige anderswo ausgestorbene Pflanzenarten gedeihen. Und er führt zudem zum Schauplatz eines ebenso absurden wie spektakulären historischen Ereignisses, des Transports einer kompletten Kriegsflotte von der Etsch in den Gardasee – und zwar auf dem Land- respektive auf dem Gebirgsweg.
Stattgefunden hat diese Unternehmung im Jahr 1439. Ihre komplizierte Geschichte und Vorgeschichte interessiert uns hier auch deshalb, weil sie zugleich viel über die politische Geographie des Gardasees erzählt, die die Geschicke der Region jahrhundertelang geprägt hat. Auch heute noch grenzen ja drei (mittlerweile ausnahmslos italienische) Provinzen an den See: im Norden das Trentino, das seinerseits zusammen mit Südtirol die weitgehend autonome Gesamtregion Trentino-Alto Adige bildet, im Osten die zur Region Venetien zählende Provinz Verona und im Westen schließlich die lombardische Provinz Brescia.
Eben um die zuletzt Genannte ging es im Jahr 1439 vor allem. Obwohl sie im erweiterten Einzugsgebiet des mächtigen Mailand lag, gehörte die Stadt Brescia damals
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