Gebrauchsanweisung für den Gardasee
Produkten legen, von genügsamen Pizza- oder Schnitzelfans womöglich weniger unterscheiden als sie glauben: Die einen wie die anderen erwarten ja nichts anderes, als daß sie ihre vertraute Lebensart auch in der Fremde wiederfinden. Und wenn sie dann am Gardasee einem guten Tip ihrer Gastgeber folgen und die – mit Recht! – vielgerühmte Trattoria Belvedere in Varignano (einem hochgelegenen Ortsteil von Arco) aufsuchen, dann sind die einen wie die anderen enttäuscht, weil es hier weder ausgeklügelte Menüs noch Schnitzel oder Pizza zu essen gibt, ja nicht einmal eine Speisekarte, sondern nur carne salata, also gesalzenes und getrocknetes, in dünne Scheiben geschnittenes rohes Rindfleisch, allenfalls mit lauwarmen dicken Bohnen als Beilage und in Essig oder Olivenöl eingelegten Gemüsehappen als kleinem feinem Vorspeisengericht.
Nun ist es nicht so, daß die Trattorìa Belvedere aufgrund dieses höchst monothematischen Speisenangebots von den Touristen gemieden würde, im Gegenteil, das kleine Lokal, dessen Besuch als schon fast obligatorischer Höhepunkt eines Abstechers in das nördlich von Riva gelegene Festungsstädtchen Arco gilt, ist fast ständig überlaufen – weswegen man sich möglichst nur außerhalb der Hochsaisonzeiten hierherauf wagen sollte. In dieser Form, als einmaliges folkloristisches Intermezzo, hat auch so eine simple carne-salata- Mahlzeit für viele ihren Reiz. Daran, daß dicke Bohnen, manchmal zusammen mit Polenta, hier jahrhundertelang den Hauptbestandteil der real existierenden Regionalküche ausmachten, der allenfalls an Festtagen durch ein paar Scheiben des gesalzenen Rindfleischs ergänzt wurde, denken die meisten nicht. Müssen sie auch gar nicht: Schließlich haben sich, mit wachsendem Lebensstandard und der rapiden Zunahme des Tourismus, auch am und über dem Gardasee gesamteuropäische, um nicht zu sagen internationale Eßgewohnheiten durchgesetzt.
Auch wenn es bislang am See selbst noch keine McDonald’s-Filiale gibt (und auch nur eine einzige in Seenähe, an der Autobahn Verona-Mailand zwischen Sirmione und Desenzano): Die gastronomische Globalisierung hat auch vor dem Gardasee nicht halt gemacht – und die Seebesucher sind froh darüber, daß sie sich in dieser Hinsicht in der Fremde nicht allzu fremd zu fühlen brauchen.
Andererseits aber ist es gerade diese durch unsere eigene Reiselust geforderte Gleichmacherei, die in uns auch wieder das Bedürfnis, ja die Sehnsucht nach Fremdartigkeit wachruft. Leute, die sich wie ich und du benehmen, sehen wir zu Hause jeden Tag; doch wenn wir fortfahren, wollen wir endlich andere Menschen sehen, und zwar eindeutig andere: stolze Spanier, verschlossene Sarden, heitere Neapolitaner, kernige Südtiroler – ja, und welche Gardasee-Anrainer?
Tut uns leid. Wir haben, über das schon Gesagte hinaus, in dieser Richtung nichts anzubieten. Eine vor allem aus Zuzüglern zusammengesetzte Mischbevölkerung gibt da halt nur wenig her. Und Offenheit wie Unkompliziertheit mögen ganz angenehme Eigenschaften sein, aber mit ihnen allein läßt sich, wie wir zerknirscht gestehen müssen, leider kein zufriedenstellendes folkloristisches Profil konstruieren. Einige Gardaseeführer haben sich zwar – wohl wissend, was von ihnen erwartet wird – allerhand Mühe beim Aufspüren irgendwelcher Sondercharakteristika gegeben, aber viel Gescheites ist dabei nicht herausgekommen. Am häufigsten findet sich noch die Behauptung, die Uferbewohner seien zwar nicht im allgemeinen, aber doch eben in ihrer Eigenschaft als Uferbewohner ungewöhnlich eigenbrötlerisch. Soll heißen: Die Menschen am Ostufer wollen partout nichts von denen am Westufer wissen, und die am Westufer nichts vom Ostufer. Als Beleg für diese Behauptung wird normalerweise die in der Tat betrübliche Tatsache ins Feld geführt, daß der lange Gardasee nur von einer einzigen Autofähre überquert wird, der bereits erwähnten Fähre zwischen Torri del Benaco und Maderno, auf der man jedoch, so ein bedeutungsvolles wörtliches Zitat, »nur selten Einheimische antrifft«.
Das könnte allerdings einfach nur daran liegen, daß Dorf- und Kleinstadtbewohner überall auf der Welt nur ganz selten zu den Dörfern und Kleinstädten ihrer Umgebung unterwegs sind, mit welchem Verkehrsmittel auch immer. Und wieso sollten sie das auch tun? Wenn die Leute am Gardasee überhaupt Zeit für solche Fahrten finden, dann zieht es sie, meist wegen der besseren Einkaufsmöglichkeiten, in die nächstgelegene
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