Gebrauchsanweisung für den Gardasee
Regel nicht aus so weiter Ferne hierherkamen wie die ersten weißen Besiedler Kaliforniens. Doch es gibt von dieser Regel mehr Ausnahmen als man auf den ersten Blick vermuten würde. Im unscheinbaren ehemaligen Fabrikdorf Campione del Garda zum Beispiel haben wir einigermaßen verblüfft festgestellt, daß man kubanische Exilanten nicht nur in Kalifornien, sondern tatsächlich auch am Ufer des Gardasees antreffen kann: Die an Campiones kleinem Dorfplatz (und zugleich Dorf-Parkplatz) gelegene Bar La Habana heißt nicht nur deshalb so, weil deren junger Inhaber Loris mehr vom Kommunismus hält als von der rechten bis rechtsextremen Parteienallianz des Silvio Berlusconi oder weil er von der Karibik schwärmt. Loris war in der Karibik, er war auch in Kubas Hauptstadt Havanna. Dort hat er die Frau seines Lebens kennengelernt, sie kurzerhand gleich mit heim nach Campione genommen und seine Bar ihr zu Ehren La Habana genannt.
Und während Loris nun seine famosen, mit Schinken oder Käse aus den Bergen oberhalb von Campione und mit selbstgezogenen Tomaten belegten Crostini oder Panini zubereitet, macht seine kleine kubanisch-italienische Tochter zwischen den parkenden Autos ihre ersten Gehversuche. Streng überwacht wird alles (Vater, Mutter, Kind, Paninizubereitung, Bar – und zuweilen auch deren Gäste) von Loris’ Mutter. Auch die stammt, wie fast alle Bewohner Campiones, nicht von hier. Sie gehörte zu den vielen, die teilweise mit ihren Familien aus der Poebene, aber auch aus Süditalien hierherkamen, als die mit Wasserturbinen betriebene Baumwoll-Spinnereifabrik von Campione zeitweise mehr als 700 Menschen ein wenig Brot und viel Arbeit versprach.
Die Baumwollspinnerei ist längst stillgelegt, die Fabrikanlagen wie die für die Arbeiter gebauten Wohnkasernen verrotten still vor sich hin – was Campione del Garda, einst tatsächlich das kommerzielle Zentrum der Gardaseeregion, heute nach Ansicht vieler zum mit Abstand unattraktivsten Ort am ganzen See macht. Lediglich hartgesottene Surfer scheren sich nicht darum: Ihnen kommt es ja, wie sich am Gardasee immer wieder zeigt, aufs Wasser und den Wind an, und nicht darauf, was am Ufer los ist – beziehungsweise (wie hier in Campione) nicht los ist. Darauf, daß sie mit ihren Wohnmobilen, die sie hier zu Dutzenden und an Sommerwochenenden zu Hunderten abstellen, auch ihrerseits kaum etwas zur Verschönerung von Campione beitragen – darauf kommt es in ihren Augen auch nicht mehr an. Immerhin gibt ihre Anwesenheit den wenigen Menschen, die immer noch in Campione wohnen, die Gelegenheit, ein wenig Geld zu verdienen, mit einem Supermarkt, einem auf anspruchslose Gaumen spezialisierten Pizzarestaurant, und eben Loris und seiner italokubanischen Großfamilie.
Ohnehin ist es heute natürlich in allererster Linie die Aussicht, am Tourismus mitzuverdienen, die die Menschen dazu bringt, ihren Wohnsitz an den Gardasee zu verlegen. Doch manchmal ist es auch nicht nur diese Aussicht allein. Was beispielsweise die Familie Pasquetti dazu gebracht hat, in die – ein paar Straßenkilometer von Limone entfernte – Villa delle Querce zu ziehen, war auch der überwältigende Ausblick, den man von ihrem neuen Wohnsitz aus hat: Die Villa und der sie umgebende, mit Eichen bestandene Park liegen unmittelbar auf der Kuppe einer 400 Meter hoch vom Seeufer emporragenden Steilwand.
Das Vergnügen, beim Frühstück oder beim Nachmittagskaffee von hier aus hinunter auf den See oder auf den direkt gegenüberliegenden Monte Baldo zu schauen, läßt sich übrigens leicht mit den Pasquettis teilen: Die Familie vermietet ein paar Zimmer im Bed & Breakfast-System. Was dabei herausspringt, ist freilich nur ein kleiner Zusatzverdienst, der allein die Pasquettis gewiß nicht zur Auswanderung aus ihrer früheren Heimat veranlaßt hätte.
Ja, Auswanderung! Dieser Begriff ist dabei ganz und gar nicht übertrieben; denn auch wenn ihr italienischer Name das nicht vermuten läßt, kamen die Pasquettis von sehr weit her. Allenfalls könnte man hier noch von Rückwanderung sprechen: Die Eltern des Familienoberhaupts waren einst, wie viele Italiener, nach Argentinien ausgewandert; in dessen Hauptstadt Buenos Aires wuchs Signor Pasquetti auf, dort studierte er Medizin, arbeitete als Gynäkologe, heiratete eine Argentinierin und bekam mit ihr zwei Töchter. Als die Familie im Jahr 2003 die überraschende Nachricht erhielt, sie seien die einzigen Erben jener Villa über dem Gardasee, beschloß sie lediglich,
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