Gebrauchsanweisung für die Welt
unterwegs ist, wird ihm begegnen. Die Aura der Ferne, des – jetzt muss ich das gräuliche Wort hinschreiben – »Exotischen«, wirkt wie ein Katalysator. Man scheint schneller entflammbar, die Mühseligkeiten des Alltags sind weg, man wird nicht mehr von so schauerlichen Tätigkeiten ruiniert wie an einer Lidl-Kasse anstellen oder einen Beamten zum Amtshandeln bewegen oder ein Zahnarzt-Wartezimmer aushalten. Lauter Aktivitäten, die – gerade weil sie so banal sind – rasanter als jede Nerven zerfetzende Eskapade unser Lebensende beschleunigen. Deshalb rennt einer davon. Nicht, um seinen Schuldenberg zu vergessen oder seine darbenden Kinder im Stich zu lassen. Nein, er flieht, weil er die Voraussehbarkeit satt hat, die abgeranzte Routine, weil er »woanders« sein will.
Und ein fremder Mann und eine fremde Frau, die sich auf einem fremden Erdteil begegnen und – gefallen: Ist das nicht eine beispiellose Freude, eine fabelhafte Chance? Oft genügt ein Blick, ein Lächeln, eine Geste der Hilfsbereitschaft. Weil meist beide Seiten empfänglicher sind, da sie – und das spielt auf Reisen eine entscheidende Rolle – einsamer sind. Die heimatlichen Bezugspunkte fehlen, die Nähe eines anderen ist somit willkommen, willkommener. Nicht immer, aber oft. Die Fremde bringt Fremde näher. Das ist ein einfacher psychologischer Reflex, er ist uralt und wird so schnell nicht aussterben.
Meist ist es der reine Zufall. Auf einer Busfahrt durch Marokko hatte ich meine Notapotheke mit einer Dose Antibiotika dabei. Und zehn Reihen hinter mir saß eine Italienerin, in deren Magen genau jene Bakterien wüteten, für die ich ausgerüstet war. So wurde ich zum Helden der Stunde, zum Retter in der Not. Nochmals Held in Bolivien, als ich in einer Dorfwirtschaft eine nagelneue Klopapierrolle aus dem Rucksack fischte. Für jemanden, der mit leeren Händen (und schwer unter Druck) um Hilfe bettelte. Ein anderes Mal war ich nichts als blond (in Japan) und eine Japanerin wollte mich fotografieren. Während wir nach einem Kirschblütenbaum suchten, erzählte ich ihr, dass ich gerade in einem Tempel meditiert hatte. So meditierten wir die kommenden Tage gemeinsam. Einmal wusste ich ein Pablo-Neruda-Gedicht auswendig, das von einem Gefühl sprach, das die Fremde gerade beschäftigte. Einmal bot ich einen Platz in einem Taxi an, weil es in Strömen regnete und kein anderes mehr kommen würde, spätabends. Einmal stand ich in einer Schlange vor einem Ticketschalter und hörte, dass es Verständigungsschwierigkeiten gab. Ganz vorne. Und da ich zufällig die Landessprache konnte, war das Problem bald gelöst. Einmal opferte ich meinen Sitz neben dem Notausgang (Fußfreiheit!) eines Flugzeugs, weil ein Mensch nach einem Platz für sein eingegipstes Bein suchte. Einmal – ich schwöre, ich bin unschuldig – erklärte ich an der Rezeption eines ausgebuchten Hotels, wieder nachts, dass sich in meinem Zimmer ein zweites Bett befände. Für die Frau, die drei Meter neben mir stand und nicht wusste, wohin in der russischen Provinz.
Es gibt unzählig viele Wege, sich zu begegnen. Was Reisende nicht schätzen: einen Fremden, der sich vor ihnen aufstellt und seine Sprüche ablässt. Gefragter sind Zeichen von Freundlichkeit. Von einem, der bereit wäre, das Leben des anderen für ein paar Augenblicke zu erleichtern. Und keine Sekunde damit rechnet, dafür »bezahlt« zu werden (na ja, versucht, nicht damit zu rechnen). Das ist das Geheimnis dieser Gesten: ihre Leichtigkeit, ihre Unverbindlichkeit. »Once gentleman, always gentleman«, sagen die Engländer. Leichtes Englisch, leicht zu merken.
Wohin die so ungeplanten Begegnungen geführt haben? Ah, wie belanglos. Bisweilen bekam ich eine Geschichte erzählt, bisweilen eine Nähe, für die Mann und Frau wunderbar ausgestattet sind, bisweilen beides. Immer entstand Wärme, dieses Grundnahrungsmittel, das jedem hilft, um mit dem Am-Leben-Sein fertigzuwerden. Ich habe im seriösen Guardian gelesen, dass nach der Attacke auf die beiden Türme des World Trade Centers – noch am selben Tag, noch in den folgenden Stunden – Wildfremde übereinander herfielen. Im nächsten Hausflur, in einer Tiefgarage, überall, wo zwei diskrete Quadratmeter zur Verfügung standen. Und sich liebten. Heftig, ohne Vorstellungsgespräch, ohne Nachspiel. Begründet haben Psychologen dieses doch überraschende Verhalten damit, dass Weltuntergangsstimmung herrschte, dass den Leuten – durch den Schock des erlebten
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