Gebrauchsanweisung für die Welt
Desasters schlagartig ausgelöst – die eingebimste Moral vollkommen egal war und sie auf dramatische Weise begriffen, dass auch sie nur einmal auf dieser Welt vorhanden sein würden.
Ich bin noch bei Sinnen und verwechsle diesen elften September 2001 in New York nicht mit einer Reise durch die Urwälder Perus. Dennoch, irgendwo haben sie etwas Gemeinsames. Eben das »Außergewöhnliche«, das Außerkraftsetzen der gängigen Anstandsregeln, das Wissen um die Dringlichkeit unserer Existenz. Bis zu seinem 30. Lebensjahr, sagt Freud, glaubt der Mensch nicht, dass er sterblich ist. Ich behaupte, dass die meisten es nie begreifen. Anders lässt sich nicht erklären, warum sie so hartnäckig ihre Jahre vertrödeln. Solide eingerichtet in tausend Ängsten, warten sie auf die Zukunft. Das ist wunderlich absurd, denn jeder weiß, dass es eine Zukunft nicht gibt. Noch nie hat ein Mensch in ihr gelebt, er lebt immer und ausschließlich in der Gegenwart. Wenn er denn lebt. Schon überraschend, die Widerborstigkeit, mit der so viele vor dieser Wirklichkeit davonrennen, sie aussitzen. Aber wie jemanden zum Leben erwecken, der lieber bei lebendigem Leib tot ist?
Die letzten Absätze waren die Einleitung zum Thema. Sie schienen mir nötig, um wieder beim Titel des Buches zu landen, bei der »Gebrauchsanweisung«. Nachdem ich das eckige Wort durch »Kleine Winke zur Vermehrung des Swing« ersetzt habe, möge man mir erlauben, ein paar Ratschläge betreffs »Eros in fremden Landen« preiszugeben. Die ich auch gern gelesen hätte. Vor den Schlägen, die ich erst hinterher als »Rat« begriff. Aber wie viele andere bin ich begriffsstutzig und muss mehrmals – bisweilen über peinsame Umwege – auf Tatsachen gestoßen werden, die Findigere schneller dechiffrieren.
Sich an fernen Gestaden verlieben kann zu einer Freude werden, die man bis ans Ende seiner Tage nicht vergessen will. Ob sich die beiden in einem Zug durch Amerika oder vor einer besetzten Kinotoilette in Peking, auf Sansibar oder am Hapuna Beach auf Hawaii, in einem Pub im australischen Outback oder auf der Ladefläche eines Trucks durch die Wüste Gobi begegnen, wie unwichtig. Aber sobald sie sich näherkommen, sollten zwei goldene Regeln – eine strahlender als die andere – ihr weiteres Handeln bestimmen: Genieße, was immer die nächsten Tage und Nächte an Hochgefühl und Schönheit und Geist bereithalten. Und – hier kommt die zweite unvergessliche Maxime: Genieße und komme nie auf die wahnwitzige Idee, den anderen – Frau oder Mann – in der Heimat wiedersehen zu wollen.
Ich weiß, ich verallgemeinere, ja ich weiß, es gibt Ausnahmen. Aber meist sieht das Ergebnis – bei Nichtbefolgen! – so aus: Der Mensch, dem man unter so anderen, so fremden, so befeuernden Umständen – auf wilden Erdteilen, unter tropischen Regenfällen, auf ozeanblauen Inseln – begegnete, ist im Stadtcafé von Quakenbrück ein anderer Mensch. Wer genau hinschaut, wird sogar bemerken: ein physisch anderer. Kein Wind fährt mehr durchs Haar, keine Sonne strahlt mehr auf die (inzwischen) bleiche Haut, kein launiges Lachen – einst beschwingt von einem ungewöhnlichen Ambiente – ist mehr zu hören. Man rührt in seinen Kaffeetassen und stellt fest, dass die Vergangenheit vorbei ist und im Jetzt nicht wieder auftaucht. Die Welt von gestern, vielleicht nur ein halbes Jahr vorüber, kommt nicht zurück. Denn sie war anders, roch anders, war stark und fordernd. Hier – sagen wir um halb drei mitteleuropäischer Zeit – riecht es nur nach Alltag, nach schlechtem Wetter und beispiellos erfolgreich desinfizierten Toiletten. Nirgends ein endloser Horizont, nirgends eine blutrot im Meer versinkende Sonne, nirgends der Hauch eines vida loca . Was die beiden aneinander fesselte, war die Poesie des fernen Orts. Jetzt verkümmern sie, das Wunder ist verblüht. Zwei Fremde sitzen sich gegenüber, vielleicht fremder als je zuvor.
Natürlich war ich um kein Haar klüger als jene, die ich gerade beschreibe. Auch ich traf später – weit weg und lange vom Tatort der Intimität entfernt – Frauen, die mir plötzlich seltsam fern erschienen, ja, ich mich heimlich fragte, was zum Teufel mich je an ihnen fasziniert hatte. Ich wette, sie haben sich dieselbe Frage gestellt. Bisweilen kam es zu giftigen Wortwechseln, so groß war die Enttäuschung, die wir uns gegenseitig gerade bereiteten. Sehr rasch folgte die Abreise. Was war, war nicht mehr. Unsere Nähe schien nicht tief
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