Gebrauchsanweisung fuer Indien
worden. Einfacher gesagt: Das Sublime steht ganz oben. So weit oben allerdings, daß der Mensch kaum hingelangt, egal wie sehr er sich streckt.
Der Tempelbau drückt eine indische Vorliebe für kosmische Ordnungskonzepte aus, die vom Kleinsten bis zum Höchsten alles aufeinander beziehen und dabei etwa das oberste Chakra im Kopf eines jeden Menschen gleichsetzen mit dem heiligen Berg Kailash, den Gipfel im Himalaja mit dem Höhepunkt des reinsten Bewußtseins, den ein jeder von uns in sich trägt. Und die berühmte Yogaposition, bei der die Beine sich kreuzen, als wären sie die unteren Schenkel eines Dreiecks, spricht von der Perfektion der Dreiecksform, weswegen die geographische Form Indiens aus zwei spiegelverkehrten Dreiecken besteht. Der Betrachter aus der Fremde nickt freundlich verständig, wenn er überhaupt noch zuhört – der bayerische Mitreisende hat eine Fellatio-Cunnilingus-Darstellung entdeckt, die ihn nicht mehr losläßt, ein Symbol des Gleichgewichts zwischen den Kräften des Männlichen und Weiblichen, zwischen Yoni und Yanni, aber ich bezweifle, daß der genießerische Blick noch Interesse an solchen Erklärungen hegt.
Die jungen Bildhauer hatten offensichtlich großes Vergnügen bei der Arbeit. Sie zeigen nicht nur kopulierende Paare (maithun auf Sanskrit, weswegen die erotischen Figuren Mithuna genannt werden), manchmal erzählen sie eine libidinöse Geschichte mit den dramaturgischen Mitteln des Comics: auf drei nebeneinanderstehenden Darstellungen wird gezeigt, wie bei einer für die Frau sehr schwierigen Position zwei Helfer herangeholt werden, wie der Mann mit der Rechten onaniert, wie die Frau sich mit der Linken befriedigt. Wer hier nur Sex sieht, ist gewiß ein Gefangener seiner Gelüste, nur ein befreiter Blick kann die wahre Botschaft erkennen, die Lehre von der Einheit des Körpers, der Seele und des Geistes.
Die Tempel zu Khajuraho entlarven die materiellen Gelüste des Menschen und bedienen sie zugleich, sie sind unwidersprochene Verherrlichungen des Hedonistischen und steinerne Gebete zu seiner Überwindung. Sie sind Maya auf beiden Seiten. Und so steht der Führer auf verlorenem Posten, ein Mann, der selbst den eigenen Legenden nicht trauen dürfte, weil sie seine Bemühtheit um Würde sabotieren. Der Ursprung des Königsgeschlecht der Chandela sei »eine sehr romantische Geschichte«, hebt er vor dem nächsten Tempel an. Das Unglück habe Hemavati, Tochter eines Priesters aus Kashi (Varanasi), ereilt, bald nach ihrer Hochzeit Witwe zu werden. Sie lebt einsam züchtig, sie schwimmt nur nachts in dem Lotusteich, um keine Begier zu wecken, doch es wäre Maya, als Mensch alles bedenken und dem Schicksal entgehen zu wollen. Mit anderen Worten, sie hat nicht an den Mondgott gedacht, der bei vollem Schein alles sieht und nicht an sich halten kann. Er nimmt sie mit Gewalt – aus dieser Vereinigung wird der erste Sproß des Chandela-Geschlechts geboren. Man könnte nach dieser Geschichte darauf verzichten, eine unromantische Legende zu hören.
Der Unterschied zwischen dem Anschein und der wahren Realität ist ein uraltes philosophisches Rätsel. Der große indische Philosoph Adi Shankara, der im achten Jahrhundert die Grundlagen für die bis zum heutigen Tag prägende Advaita-Philosophie gelegt hat, formulierte einst, nur das Universelle sei reell, die ewige, unveränderliche Realität des Göttlichen, das Brahman. Uns Menschen erscheine es jedoch in unzähligen Formen und Ausprägungen aufgrund unserer beschränkten Sinne. Guru-ji sagte einmal zu mir: »Sieh an, ich habe meine Kinder erschaffen und verstehe sie doch nicht, wie soll ich da verstehen, was Gott erschaffen hat. Ihr (im Westen) wollt alles überblicken, weil ihr mit den Augen des Eroberers schaut. Doch ihr könnt nicht verstehen. Es ist die Arroganz des Menschen, die ganze Welt begreifen zu wollen. Und weil er ungern scheitert, vereinfacht er die Welt, bis er sie versteht, ein jeder auf seine eigene Weise.«
Wenn Maya ein Instrument ist, dann ist das Ego der Virtuose. Das Ego ist das größte Hindernis in der spirituellen Evolution. Wer die Maya einer Ebene durchschaut, für den hält die Tradition stets eine höhere Ebene bereit. Wer etwa in der geopferten Kokosnuß nicht ein Symbol seines Egos mehr erkennen mag, wer der einfachen Symbole überdrüssig ist, der kann zur puritanischen Tradition aufsteigen und Manas Puja ausüben, ein Ritual in Gedanken, die reine Vorstellung, bei der weder Kokosnüsse noch
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