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Gebrauchsanweisung fuer Indien

Titel: Gebrauchsanweisung fuer Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilija Trojanow
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Geistesgeschichte werden die Veden zitiert, um eine enorme Bandbreite an Ideen zu untermauern. Sowohl die Denker der Vaiseshika-Schule (jene, die an die Existenz ultimativer Einheiten glauben, an individuelle Seelen ebenso wie an Atome) als auch die Advaita-Philosophen (jene, die von einem Urgrund ausgehen, der allen Lebewesen und Kräften gemein ist) legitimieren ihre Sicht vedisch. Auch die Nyaya-Schule, die sich den Gesetzen der Logik und der Erkenntnislehre widmete, verwies auf die Veden. Die vermeintliche Spiritualität war also eher eine Rhetorik der gemeinsamen Grundlagen, ein intellektuelles Lippenbekenntnis, um in Ruhe an der Untertunnelung der Mystik zu arbeiten. Wie sollte man ansonsten erklären, daß der Philosoph Kumarila schon im siebten Jahrhundert behauptet hat, ein ›Ich‹ existiere, bewiesen durch die Tatsache, daß dieses ›Ich‹ beim Denken stets präsent sei, wohingegen sein Kollege Shankara einige Generationen später entgegnete, dies beweise nur, daß ›Subjektivität‹ existiere, und somit die ›Anwesenheit von Bewußtsein‹, die offensichtliche Existenz eines objektiven Selbst sei aber eine Illusion, entstanden durch die Logik der grammatikalischen Verwendung des Wortes ›Ich‹. Zwei einleuchtende Positionen, die sich tausend Jahre später in Europa wiederholen, auf dem Höhepunkt der Aufklärung, bei den westlichen Denkern Descartes und Kant, beide des mystifizierenden Denkens gänzlich unverdächtig. Gibt es irgendwo auf der Welt einen radikaleren Materialismus als jenen der Lehre der Carvaka-Philosophen, die jegliche Vorstellung eines Lebens nach dem Tod ebenso ablehnten wie die Autorität der heiligen Schriften und die Unsterblichkeit der Seele? Nur die unmittelbare Wahrnehmung (anubhava) könne zu Wissen fuhren. Ohne das philosophische Hochdruckgebiet, das die Carvaka-Schule verursachte, hätte ein staatspolitisches Werk wie Kautilyas ›Arthashstra‹ (siehe Kap. 8) nicht entstehen können. Wie soll man die bahnbrechenden Leistungen von Brahmagupta (Astronom), Aryabhata (Mathematiker) oder Kautilya (Ökonom und Politologe) einordnen? Wie die Erfindung der Null erklären – können Fromme den Drang verspüren, das Nichts zu verzeichnen?
    Und wie, um diese Grübelei mit einer besonders perplexen Frage abzuschließen, soll man die öffentliche Stellung der Erotik bewerten? Wieso hat sich in ›Fakiristan‹ die hohe Kunst der Kurtisanen entwickelt, wieso wurden ganze Bibliotheken ›fleischlicher Wissenschaft‹ verfaßt (das Kamasutra und das Ananga Ranga sind nur die berühmtesten), und wieso sehen die Außenwände der Tempel mancherorts aus wie Trailer für einen Pornofilm?

    Die berühmtesten Tempelerotika Indiens finden sich in dem Dorf Khajuraho im Bundesstaat Madhya Pradesh (dem ›Mittelland‹), ein vulkanisches Gebiet, ein altes Gebirge. Von den achttausend erwachsenen Einwohnern Khajurahos ernähren sich zweitausend vom Tourismus – das ist keine Maya. Denn so unentdeckt weite Teile Indiens weiterhin sein mögen, über mangelndes Interesse an den ›Ferkeleien‹ (so ein bayerischer Besucher, der neben mir stand und eine copulation à trois genau inspizierte) kann man sich in Khajuraho nicht beklagen. Es fällt schwer, sich die einstige Hauptstadt vorzustellen, vierhundert Jahre lang eines der bedeutendsten kulturellen Zentren Indiens, Sitz der Chandela-Dynastie, deren Reich von Punjab bis Bengal reichte. Die Tempel lagen damals im Wasser, was angesichts der Eleganz der Bauten überwältigend schön gewirkt haben muß. Die Pilger suchten die Tempel mit Booten auf, und im Hintergrund erhoben sich die Hügel, aus denen die Steinblöcke gehauen wurden – um das nahe gelegene Chunar herum findet sich der beste Speckstein Indiens –, die mit Flößen aus Salbaumholz in die Stadt transportiert wurden.
    Natürlich ist wahr, was die kundigen und sprachmächtigen Führer mit theatralischer Erregung in der Stimme kolportieren, daß die Tempel als Modelle des Kosmos gedacht waren, Ausdruck seiner vier Elemente Erde, Feuer, Luft und Wasser, und daß die unterste Ebene der Friese die animalische Welt repräsentiere, die mittlere Ebene jene der Sinne und der Lust, gar der Vereinigung aller fünf Sinne im Einklang (es wird getanzt mit Weingläsern in der Hand; Flöte, Shenai und Veena spielen auf, kleine Becken und die Dholak bestimmen den Groove) und nur die oberste Ebene den göttlichen Segen. Mit anderen Worten: Je höher das Auge steigt, desto mehr ist der Geist erhöht

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