Gebrauchsanweisung fuer Indien
Geschichte. Die Freiheit des Künstlers wird beschnitten, weil intolerante Menschen ein Thema so manipuliert und instrumentalisiert haben, daß es zu einem Tabu geworden ist. Deswegen kann sich im Endeffekt nur der religiöse Fanatiker über die Zensur freuen, denn er hat sein grobschlächtiges Denken zu dem Maßstab erhoben, mit dem künstlerisches Differenzieren zurechtgestutzt wird. Oder mit anderen Worten: Nur wer in einem mordenden Hindu alle Hindus sieht, kann die Ablehnung der konkreten Abbildung nachvollziehen. So ist es folgerichtig, daß dem Film von Mahesh Bhatt nicht etwa Ungenauigkeiten, sondern zuviel Realität vorgeworfen wurde. Die politische Korrektheit fordert keineswegs eine Lebensnähe, sondern die Beschränkung auf vorgegebene Schablonen mit klaren Konturen, die Vermeidung von Grauzonen. In seiner dialektischen Perversion ist dies dem sozialistischen Realismus nicht unähnlich, der ja bekanntlich alles andere als realistisch war.
Geschult an der Philosophie von Maya müßte die entscheidende Frage lauten: Wer zensiert eigentlich die Zensur?
Die Zensur in Indien betrifft nicht nur gegenwärtige Themen. Es ist für Historiker schwierig, sich jenen geschichtlichen Figuren anzunähern, die von einer der vielen Gemeinschaften in Indien in den Heiligenstand erhoben worden sind. Einer Gestalt wie der mystischen Dichterin Mirabai etwa, einer Art indischer Hildegard von Bingen. Das monochrome Abziehbild zeigt sie stets in züchtig weiße Gewänder gekleidet, die einsaitige Ektara zupfend. Ihre Liebe zu Krishna wird eifrig vergegenwärtigt, ihre Ehe mit dem Herrscher eines großen Reiches in Rajasthan geflissentlich übersehen. Als der indische Autor Kiran Nagarkar einen Roman mit dem Titel ›The Cuckold‹ (›Krishnas Schatten‹) über sie verfaßte, sorgte er für einige Aufregung. Er stellt in seinem historischen Roman die Heldin in Frage, er diskutiert ihre menschlichen Leidenschaften und Schwächen, und er wirft ein Licht auf die Leiden ihres Ehemannes, der es wahrlich nicht leicht hatte als Gottes Nebenbuhler.
Als das Buch erschien, mußte Nagarkar Kritik einstecken. Mehrere vereinbarte Veranstaltungen wurden abgesagt, weil man erfahren habe, »daß Mirabai in einem anderen Licht gezeigt wird, als erwartet wurde«. Eine persönliche Interpretation von Nationalikonen wie Mirabai oder des regionalen Fürsten Shivaji, der von den Marathi als Heiliger und Held zugleich verehrt wird, ist kaum möglich. Selbst einfühlsame, nachdenkliche Kritiker haben Nagarkar die Szene vorgeworfen, in der Maharaja Kumar mit Mirabai ins Bett geht, denn dies widerspreche der einhelligen Überzeugung, sie sei eine Jungfrau geblieben, obwohl sie mit dem Maharaja verheiratet war.
In Indien findet seit einem Jahrzehnt ein wütender Kampf um die nationalen Ikonen statt – Schulbücher werden umgeschrieben, historische Tatsachen als Beleidigung einer bestimmten Gemeinschaft tabuisiert. Jedes Buch, das in Schulen oder Universitäten verwendet werden soll, muß zuerst von einer Zensurbehörde genehmigt werden, die überprüft, ob alle Heroen, Gurus und Götter mythengerecht abgebildet sind. Auf die historische Wahrheit wird nicht nur kein Wert gelegt, es wird sogar erwartet, daß sie gegenüber den Legenden zurücktritt.
Wohin dieser fatale Maya-Kreis führt, zeigten die Massaker im Bundesstaat Gujarat, bei denen im Frühjahr 2002 mehrere tausend Moslems brutal umgebracht wurden. Das Muster kurzer, lokaler und begrenzter Konflikte zwischen Mitgliedern verschiedener Glaubensgemeinschaften hat sich als Phänomen etabliert, auf das die indische Öffentlichkeit mit geübtem Entsetzen, Bedauern oder Schadenfreude reagiert. Aber die Ereignisse in Gujarat waren von einer unfaßbaren Perversion, und die Machenschaften der regierenden Bharatiya-Janata-Partei mit der Polizei und der Verwaltung bewiesen, was zuvor oft vermutet, aber selten so detailliert dokumentiert worden war, daß sich nämlich solche Gewalt keineswegs einem spontanen Volkszorn verdankt, sondern einer unheilvollen und langwierigen politischen Strategie, die danach strebt, der indischen Gesellschaft den eigenen Stempel aufzudrücken. Wenn die Mächte, die in Gujarat die Fäden zogen, nicht besiegt werden, könnte sich diese Katastrophe als Entwurf für eine von der ›Sangh Parivar‹ dominierte Zukunft erweisen.
Gemeinhin werden die ›Sangh Parivar‹ und ihre verschiedenen Aushängeschilder als ›Hindu-nationalistisch‹, ›rechtsextrem‹ oder
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