Gebrauchsanweisung fuer Indien
Stunden. Vor etwa dreißig Jahren wurde eine von Puristen geschmähte Sprintversion namens One-Day-Match eingeführt. In diesem Modus wird seit 1975 alle vier Jahre ein Weltmeister gekürt. Ein Testspiel hingegen wird über fünf Tage ausgetragen, von morgens zehn bis nachmittags um fünf oder sechs, je nach Lichtverhältnis. An den Tagen danach läuft zuerst eine Zusammenfassung, gefolgt von einer Reprise des gesamten Matches mit dem Originalkommentar. Und wenn das Spiel durch Regen unterbrochen wird, kann man die Aufzeichnung des vorigen Tages noch einmal zeigen, und wenn es weiter regnet, die des vorvorigen. Zwischen jedem Spielzug gibt es reichlich Zeit, die vorausgegangene Aktion mehrfach in Zeitlupe aus drei verschiedenen Perspektiven zu wiederholen. Alle vier Minuten, nach jedem Over, der aus sechs Würfen besteht, erfolgt eine Pause, vorgeblich, um die Seite zu wechseln, von der aus der Ball geworfen wird. Tatsächlich handelt es sich um eine Werbepause von der Länge eines Coca-Cola-Spots …
Eine überdurchschnittliche Zahl von Googlys wird geworfen, wenn Indien gegen Pakistan spielt, auf dem Spielfeld sowie außerhalb der Stadien. Daß die beiden Mannschaften sich überhaupt begegnen, ist ein Politikum sondergleichen. Kriegsmetaphern werden im Sport zwar häufig bemüht, aber sie sind selten so angebracht wie bei dem Duell zwischen zwei Staaten, die fast täglich in kleinere oder auch heftigere Grenzscharmützel verwickelt sind und die ihre Rhetorik regelmäßig nuklear anreichern. Vor einigen Jahren, als bewaffnete Jihadis das indische Parlament angriffen und nach einem langen Gefecht mit den Sicherheitskräften erschossen wurden, war die Lage so angespannt, daß einige westliche Länder ihre Staatsbürger aus Bombay und Delhi evakuierten. Im nachhinein wird behauptet, zum erstenmal seit der Kuba-Krise seien zwei Länder am Abgrund eines atomaren Schlagabtausches gestanden. Doch selbst in Krisenzeiten läßt sich das Aufeinandertreffen der beiden Mannschaften bei der Weltmeisterschaft nicht vermeiden, ein besonders heikles Kräftemessen, denn der Unterlegene in dieser Brüderfehde verliert vor der ganzen Kricket-Welt.
Schon zum Spielbeginn um drei Uhr am Nachmittag ist Bombay wie verwandelt. Im wuseligen Geschäftsviertel Fort stehen Kulis, Botenjungen, Straßenverkäufer dicht gedrängt vor den offenen Fenstern der Gaststätten, um einen Blick auf einen der kleinen Fernseher zu erhaschen. Krämer im Schneidersitz rufen vorbeifahrenden Kunden das laufende Resultat mit gewürzten Kommentaren zu. Von überall her ist das Klingeln der Handys zu hören: Geschäftsleute tauschen sich über den Spielverlauf aus. Manche Firmen haben ihren Angestellten freigegeben, einige Behörden frühzeitig ihre Schalter geschlossen. Am ›Gateway of India‹ wird ein Bettler mit Transistorradio gesichtet, der seine Almosenschale beiseite gelegt und seine Freunde um sich versammelt hat. Später am Abend, als Indien ein gutes Schlagergebnis vorgelegt hat und Pakistan es mühsam zu überbieten versucht, sind die Straßen so leergefegt wie ansonsten nur am Sonntag um fünf Uhr in der Früh.
Auch die Atmosphäre im Stadion ist ungewöhnlich. Die Kommentatoren sind begeistert von dem bunten, lauten, enthusiastischen und bis zuletzt friedfertigen Geschehen auf den Rängen. Dort, wo normalerweise einige ältere Herren auf Klappstühlen bei sensationellen Schlägen wohldosiert in die Hände klatschen, johlen und stampfen und singen und tanzen und hüpfen und fluchen grünblau gekleidete Fans mit Trommeln, Fahnen und Schildern.
In Zeiten allgegenwärtiger Beschleunigung wirkt Kricket angenehm anachronistisch. Ein Testmatch endet nach fünf Tagen oft in einem Unentschieden! Es gibt weder ein ›Sudden Death‹ noch ein Elfmeterschießen. Die Spielregeln zu erklären ist keine leichte Aufgabe. Im Prinzip hat Kricket einiges mit Brennball oder Baseball gemein. Mitten auf dem ovalen Platz ragen zwei knapp zwanzig Meter voneinander entfernte Hölzer (wickets) aus dem Boden. Die zwei Mannschaften zu je elf Spielern wechseln sich mit Werfen (bowling) und Schlagen (batting) ab. Jeweils zwei Spieler der schlagenden Mannschaft stehen an den Hölzern – der eine versucht, mit einem Schläger den ihm zugeworfenen Ball so ins Feld zu plazieren, daß er mit seinem Partner die Positionen wechseln kann, ehe die gegnerische Mannschaft den Ball zu den Hölzern zurückwerfen kann. Dies zählt als ein Punkt (Run), Bälle, die über den Spielrand
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